Der Kanton Tessin hat jetzt einen Bundesrat, einen versierten Politiker mit klassischem Bundesratsformat. Ignazio Cassis steht für Pragmatismus. Für das Machbare. Ignazio Cassis gibt sich nicht als Architekt grosser Wunschschlösser. Visionen? Nicht sein Ding. Lieber zitiert er Helmut Schmidt, der fand, wer eine Vision habe, sei ein Fall für den Arzt.
Die Wahl von Cassis steht für Kohäsion, für Rücksicht auf die anderen Landesteile. Auch wenn die Ostschweiz fehlt: Der Bundesrat hat in seiner Zusammensetzung den Charakter von Swissminiatur. Die Schweiz im Kleinen. Nur ist das kein Signal dafür, dass jetzt die Zeit der grossen Würfe anbricht.
Dabei stehen grosse Probleme an. Die Europafrage ist nach wie vor ungelöst. Cassis will da den Reset-Knopf drücken. Doch internationale Politik und Diplomatie sind nicht zu vergleichen mit einem simplen Computerproblem, bei dem man mit Reset von Neuem beginnen kann. Und es ist mitnichten eine Frage der eigenen Präferenz, vielmehr eine gemeinsame Suche des Gesamtbundesrats nach Lösungen in der vertrackten Situation mit Brüssel.
Die Regierung vor der Grunderneuerung
Offen ist, ob der Freisinnige Ignazio Cassis überhaupt Aussenminister wird. Gut denkbar, dass SP-Bundesrat Alain Berset ins EDA wechseln will. Berset hat stets Interesse an internationalen Fragen bekundet. Das Aussendepartement könnte dem noch jungen Minister ein Sprungbrett bieten für die Zeit nach dem Bundesrat. Käme der Wechsel und bliebe es bei dieser Rochade, müsste Cassis das EDI übernehmen. Er wäre ein geeigneter Innenminister. Mit breitem Wissen in der Gesundheits- und Sozialpolitik.
Nach einem allfälligen Nein zur Rentenreform könnte er getrost hier den Reset-Knopf drücken, müsste aber danach den Beweis einer besseren, mehrheitsfähigen Reform erbringen. Und sollte es ein Ja geben, dürfte Cassis schon die nächste Reform an die Hand nehmen und wirtschaftsfreundlicher ausgestalten wollen.
Ebenso plausibel ist der Verbleib der Bisherigen. Schliesslich steht mit dem Abgang von Doris Leuthard bald die nächste Vakanz an. Das bietet neue Wechselmöglichkeiten. Für Simonetta Sommaruga etwa: Unter dem Dach des UVEK sind Kernthemen der SP vereint. Umwelt, Verkehr, Klima und Energie: Themen, die Sommaruga in ihrer Zeit als Ständerätin mitgestaltet hat.
Mit einem Wechsel ins UVEK könnte sie das undankbare EJPD loswerden. Oder auch später, wenn es mit den absehbaren Abgängen von Ueli Maurer und Johann Schneider-Ammann sowieso zu einer Erneuerungswelle im Bundesrat kommt.
Einen Tick mehr rechts
Ignazio Cassis wird mit seinem politischen Gewicht die Waagschale im Bundesrat etwas mehr zugunsten von SVP und wirtschaftsliberaler FDP bewegen. Bei den nächsten Vakanzen könnte sich dies noch verstärken, würde etwa jemand wie CVP-Präsident Gerhard Pfister in den Bundesrat gewählt. Auch eine Frau wie FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter als mögliche Nachfolgerin von Johann Schneider-Ammann würde eine rechte Note einbringen. Schwierige Aussichten für SP und Grüne – und eine taktische Herausforderung.
Nach dem Tessin- das Frauenproblem
Der Anspruch der Frauen auf einen Sitz im Bundesrat ist eingelöst. Die «Auguri!»-Rufe der Tessiner übertönen vieles, auch die mahnenden Stimmen von Frauen. Mit dem angekündigten Abgang von Doris Leuthard stellt sich die Frauenfrage aber akut. Nur haben sich weder CVP noch FDP diese Frage in der Vergangenheit dringlich genug gestellt. Fazit: Die Auswahl ist begrenzt.
Wenn die Wahl heute eines zeigt dann dies: Die Parteien rechts der Mitte sind gut darin, die richtigen Männer zur richtigen Zeit zu positionieren. Männer, denen wie Cassis der Hut eines Bundesrats gut passt. Sie haben aber eine eklatante Schwäche bei der Förderung der zweifellos vorhandenen fähigen Frauen in ihren Reihen.