Schauplatz ist ein Dorf im Kanton Bern. Dreieinhalbtausend Einwohner. Man kennt sich. Er ist Kundenberater bei einer Bank, sie medizinische Praxisassistentin. Gemeinsam haben sie drei Kinder, die beiden Jungs sind 15 und 12, die Tochter 9 Jahre alt. Als die Buben plötzlich Fieber haben, macht der Kinderarzt vorsorglich einen Corona-Test. Das Resultat stellt das Leben der Familie kurzzeitig komplett auf den Kopf.
Die Meldung verbreitet sich wie ein Lauffeuer
Die Mutter verpasst den Anruf des Kinderarztes. Die beiden Buben müssen bis zum Resultat des Testes zu Hause bleiben. Der Ältere nimmt das Telefon ab. Es wird Tatsache: Er und sein Bruder haben Corona. «Am Anfang habe ich mich gefreut. Zehn Tage daheim bleiben und nichts tun.» Die Freude des Gymnasiasten ist schnell verflogen, dazu aber später mehr.
Ein SMS in einem Chat hat die Nachricht verbreitet.
Der Kinderarzt erreicht die Mutter doch noch. Im ersten Moment ist sie überrumpelt: «Was mache ich jetzt? Was heisst das für uns?» Noch bevor sie etwas tun kann, ruft bereits die Schulleitung einer ihrer Söhne an: Da gehe ein Gerücht um, sie hätten Corona. «Wie kann die Schulleitung das wissen?», fragt sich die Mutter. Ein SMS in einem Chat ist der Auslöser: «Jemand in der Klasse hat dies gesehen, im Schulzimmer herum gerufen und – totale Panik», erzählt die Mutter.
Die Aufregung im Dorf beginnt
Es ist der erste Fall an allen betroffenen Schulen – es sind deren drei, denn die Tochter geht im Dorf in die Schule, der Mittlere im Nachbardorf in die Oberstufe und der Älteste ins Gymnasium. Es ist auch der erste Fall im Sportclub und der erste Fall im Dorf selber. Die Familie gerät in einen Strudel von verzweifelten Anrufen von Eltern, Anschuldigungen und Vorwürfen.
Sieben Stunden lang ist die Mutter am Telefon: «Ich habe über 200 Nachrichten erhalten.» Auch von Leuten, die sie gar nicht kennt. Alle wollen wissen, ob ihr Kind jetzt in Quarantäne muss. Im Chat des Sportclubs will man wissen, wer Corona hat – man müsse doch den Namen kennen, steht da. Die Mutter ist erstaunt, wie viel in so einem Moment abgeht. «Diese Reaktionen kommen wohl aus der Verunsicherung, der Angst heraus.»
Die Leute beobachteten uns. Ich fühlte mich wie im Zoo.
Die Familie ist plötzlich die Attraktion im Dorf. Immer wieder kommen Leute an ihrem Haus vorbei. «Sie verstecken sich hinter dem Baum und schauen, wie wir leben», sagt der Vater. Der Sohn meint: «Es ist, als wäre man im Zoo.» Er erhalte auch viele böse SMS mit Fragen: «Wieso bist du gestern neben mir gesessen? Wieso haben wir gestern noch zusammen gegessen?» Er habe da ja noch nichts gewusst.
Erst kurz vor Mitternacht erhält die Familie ein Telefon der Kantonsbehörden mit den weiteren Anweisungen. Dabei zeigt sich: Die verzweifelten Reaktionen von gewissen Eltern sind unbegründet, die betroffenen Schulklassen müssen nicht in Quarantäne. Bei der Familie selber beginnt aber ein strenges Regime.
Quarantäne, Isolation, Quarantäne
Die beiden Jungs mit dem positiven Corona-Test müssen im Zimmer bleiben, das Essen wird ihnen vor die Türe gestellt oder an den Tisch mit genügend Abstand zur Familie. Sie brauchen ein eigenes Badezimmer, geht das nicht, muss es jedes Mal desinfiziert werden. Die Mutter macht sich Sorgen: «Das sind Kinder, die haben Fieber, die sind krank. Ich kann sie doch nicht einfach 10 Tage im Zimmer ihrem Schicksal überlassen.»
Mir hat gefehlt, dass die Eltern gute Nacht sagen kommen oder mich mal umarmen.
Die Behörden raten, den Kindern uneingeschränkt Zugriff aufs WLAN zu gewähren und einen Computer ins Zimmer zu stellen. Gamen sei in diesem Moment erlaubt. Das freut die Söhne natürlich. Sie gamen, bis das Handy keinen Akku mehr hat. Während dem Aufladen wird es aber langweilig. «Viermal habe ich das Zimmer aufgeräumt», erzählt der Jüngere. Es sei aber wie im Restaurant, das Essen werde serviert, er müsse nichts im Haushalt machen. «Mir hat aber gefehlt, dass die Eltern am Abend gute Nacht sagen kommen oder mich am Tag mal umarmen.» Der Bruder mache das zwar zwischendurch, «das hat das aber nicht ersetzt».
Langsam findet sich die Familie zurecht mit allen Hygienevorschriften, den komplizierten Abläufen. Rituale entstehen, zum Beispiel nach dem Essen: «Wir öffnen die Abwaschmaschine, dürfen uns aber nicht kreuzen, darum gehen wir hinaus. Sie kommen rein, stellen den Teller in die Maschine und gehen wieder in ihr Zimmer, dürfen aber nichts anfassen – keinen Türgriff, keinen Lichtschalter, sonst müssen sie es desinfizieren – dann können wir wieder hinein.»
Ein weiterer Coronafall in der Familie
Plötzlich hat aber auch die Mutter Halsschmerzen. Ihr Corona-Test: Positiv. Im grossen Esszimmer sitzt sie nun neben den Buben, mit Abstand zu Vater und Tochter. Für sie heisst das aber, die Quarantäne beginnt von vorne – sie dürfen weitere zehn Tage keinen Kontakt zu den Infizierten haben und das Haus nicht verlassen.
Inzwischen ist klar, wo sie das Coronavirus eingefangen haben – vom Grosi. Den ganzen Sommer lang haben sie die Grossmutter nicht besucht, weil sie immer wieder im Spital war – sie wollten sie nicht gefährden. Nachdem das Grosi jedoch zum dritten Mal negativ getestet wurde, ging die Familie hin, trank einen Kaffee und war nach 20 Minuten wieder weg. Dem Grosi ging es dann sehr schlecht, es musste auf die Intensivstation. Auch der Grossvater hatte das Coronavirus. Alte Leute, Risikopatienten: «Auf einmal bist du nicht mehr nur mit deinen eigenen Ängsten beschäftigt», sagt die Mutter. Die Tochter: «Ich habe den ganzen Abend geweint, weil ich mir Sorgen um meine Grosseltern gemacht habe. Ein richtiger Schock.»
Hilfe aus dem Umfeld
Was der Familie in dieser Zeit hilft: Nach den hysterischen Reaktionen zu Beginn spüren sie nun grosse Unterstützung aus dem Umfeld. Bestellte Einkäufe werden vor die Türe gestellt, aber auch Gute-Laune-Taschen, Spiele, Rätselhefte, Quarantäne-Kalender, wo sie jeden Tag ein Kläberli draufkleben können, um die Tage zurückzählen zu können. Blumen. Das verkürzt die Zeit.
Doch plötzlich hat sich die Familie nichts mehr zu sagen: «Wir erleben ja nichts. Sind hier drin und warten. Plötzlich weisst du auch nicht mehr, welcher Tag ist», sagt die Mutter. «Wir lesen jeden Morgen gemeinsam die Zeitung, spielen Spiele, aber wir bekommen auch kaum mit, was draussen passiert.»
Jetzt, wo die Zeit vorüber ist, alle wieder hinaus dürfen, freuen sie sich an jedem Erlebnis, auch wenn es nur der ganz gewöhnliche Alltag ist.