In vielen Kantonen sinken die Fallzahlen, die Dunkelziffer ist so tief wie lange nicht mehr – und trotzdem warnen Expertinnen und Experten eindringlich vor Lockerungen der aktuellen Massnahmen. Grund dafür ist die Coronavirus-Variante B.1.1.7, auch bekannt als britische Mutation. Was sind die Befürchtungen und wie haben andere Länder die Variante in den Griff bekommen? SRF hat Daten und Modelle ausgewertet und veranschaulicht die Macht der Mutationen in vier Grafiken.
1. Neue Varianten dominieren wohl bei Ansteckungen
Die Datenlage zur Ausbreitung der Coronavarianten in der Schweiz ist dürftig. Um die Mutationen in einer positiven Probe zu entdecken, muss ein Labor aufwändige und langwierige Untersuchungen (Sequenzierungen) durchführen. Aktuell stehen der Öffentlichkeit nur die Ergebnisse von zwei Laboratorien (Viollier und Risch) zur Verfügung. Diese haben in der vergangenen Woche (KW 5) 1113 positive Coronaproben zufällig ausgewählt und sequenziert. In 270 der Proben wurde die britische Variante B.1.1.7 festgestellt – hochgerechnet würde dies bedeuten, dass rund jede vierte Neuinfektion in der Schweiz durch die neue Variante verursacht wird. Da es aber bis zu zwei Wochen dauert, bis solche Untersuchungen abgeschlossen sind, dürfte die Zahl für den heutigen Tag bereits deutlich höher sein.
Eine Forschergruppe der Universität Bern unter der Leitung von Christian Althaus schätzt, dass vor sechs Tagen rund 45 Prozent der Neuinfektionen durch eine der neuen Varianten (vor allem B.1.1.7) ausgelöst wurden. Dabei gibt es aber grosse regionale Unterschiede. Für den Kanton Genf berechnen sie einen Variantenanteil von fast 80 Prozent. Für Zürich wären es rund 51 Prozent, für Bern 45 Prozent. Gemäss dem Modell der Forscher dürfte die Varianten in diesen Tagen (Stand: 18.2.2021) gar die Mehrheit der Ansteckungen ausmachen – unabhängig davon, ob die Fallzahlen sinken oder nicht. Das hält auch das BAG für plausibel, wie Patrick Mathys am Point de Presse vom Dienstag, 16.2.2021 sagte.
2. Erhöhte Übertragungsrate drückt R-Wert hoch
Gemäss der Science Task Force des Bundes besteht die Gefahr der neuen Variante vor allem in ihrer erhöhten Übertragungsrate. So schätzt die Uni Bern, dass B.1.1.7 zwischen 52 und 68 Prozent ansteckender ist als die bisher in der Schweiz vorherrschende Variante (Wildtyp). Weil die neue Variante den Wildtyp immer mehr ablöst, wird der effektive R-Wert bei gleich wirksamen Massnahmen und gleichem Verhalten der Bevölkerung tendenziell hochgedrückt – und die Fallzahlen könnten, so die Befürchtungen von Epidemiologen, zuerst langsamer fallen, dann stagnieren und schliesslich wieder steigen. Diese Hebelwirkung der neuen Variante könnte ein Grund sein, dass die Fallzahlen zurzeit zunehmend stagnieren, statt weiter zu sinken. Doch könnte sie auch dazu führen, dass die Infektionen bei anhaltenden Massnahmen wieder steigen? Die folgende Illustration zeigt, stark vereinfacht, wie die Variante B.1.1.7 zu einer neuen Infektionswelle führen könnte. Verändern Sie die Übertragungsrate, um den Effekt der Hebelwirkung auf die Fallzahlen zu simulieren.
Wichtig: Es handelt sich bei dieser interaktiven Illustration nicht um ein Prognosetool, sondern es soll bloss veranschaulichen, wie stark die Variante die Dynamik der Pandemie verändern kann. Weitere Einflussfaktoren wie Impfungen, Dunkelziffer, Änderungen der Massnahmen oder verändertes Verhalten der Bevölkerung werden nicht berücksichtigt.
Dass die Fallzahlen, obwohl sich die Variante in der Schweiz ausbreitet, nicht steigen, wie dies etwa im Dezember in England geschehen ist, führen Epidemiologen darauf zurück, dass die aktuellen Massnahmen wirken. Doch die Frage ist: Wirken sie genug?
Darüber sind sich die Expertinnen und Experten nicht einig. Die Task Force schrieb bereits am 9. Februar in ihrem wissenschaftlichen Update: «Sobald der relative Anteil von B.1.1.7 unter den gesamten Populationen eine kritische Grenze überschreitet, beginnt die totale Anzahl Infektionen pro Tag wieder zu wachsen.» Wo diese kritische Grenze liegt, wird aber nicht kommuniziert.
Am Dienstag betonte Patrick Mathys vom BAG, Lockerungen seien nur möglich, wenn das jetzige Niveau der Neuinfektionen gehalten werden könne. Der Epidemiologe Christian Althaus schrieb am Dienstag auf Twitter: «Aufgrund der aktuellen Massnahmen muss es aber auch in Regionen mit einem hohen Anteil der neuen Variante – wie zum Beispiel in Genf – nicht zu einem Anstieg der bestätigten Fälle kommen.» Doch um den Rückgang der Epidemie weiter zu gewährleisten, müssten allfällige Lockerungen «mit anderweitigen Mitteln zur Infektionskontrolle kompensiert werden.»
Die Berner Kantonsärztin Linda Nartey sagte gegenüber «10vor10», dass man aktuell einfach nicht wisse, ob die Variante bei den gegenwärtigen Massnahmen zu einem Anstieg der Fallzahlen führen würde. Deshalb müsse man die Situation weiter beobachten.
3. Wie genau können solche Modelle überhaupt sein?
Doch wie gut ist die Sicht auf die neue Variante? Die Schweiz ist ungenügend für das Monitoring der Ausbreitung der neuen Varianten ausgerüstet. Zu wenig Labore haben die nötige Infrastruktur. Die Folge: akuter Datenmangel. Dänemark oder Grossbritannien sind da besser aufgestellt. Dänemark etwa untersucht über 70 Prozent aller positiven Tests auf die neue Variante, in der Schweiz dürfte dieser Wert unter zehn Prozent liegen. Wenn man aber die Entwicklung des prozentualen Anteils von B.1.1.7 am gemeldeten Infektionsgeschehen vergleicht, zeigt sich, dass die vorhandenen Zahlen und Modelle in der Schweiz dem gleichen Muster folgen wie die Kurven von Grossbritannien und Dänemark. Das spricht dafür, dass auch die Schweizer Kurve der Realität relativ nahekommt.
4. Vereinigtes Königreich und Dänemark halten B.1.1.7 in Schach
Die Fallzahlen in Grossbritannien sinken, auch wenn dort inzwischen fast alle Infektionen durch die Variante B.1.1.7 entstehen. Wie geht das zusammen? Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Zum einen hat das Vereinigte Königreich sehr harte Massnahmen beschlossen, etwa Schulschliessungen und punktuelle Ausgangssperren. Um die Härte von Massnahmen weltweit vergleichen zu können, hat die Universität Oxford den sogenannten Stringency Index entwickelt. Auf diesem Index von 0 bis 100 liegt das Vereinigte Königreich derzeit bei 86 – und verfügt damit über die weltweit strengsten Massnahmen. Ein weiterer Grund könnte die Impfstrategie sein. Bereits im Dezember begonnen, hat inzwischen rund ein Viertel der Bevölkerung eine erste Dosis erhalten. Als dritte Erklärung könnte dienen, dass nach Schätzungen bis zu einem Drittel der Bevölkerung das Virus bereits hatten und damit Antikörper entwickelt haben. Ausserdem sind die Britinnen und Briten gemäss Mobilitätsdaten vorsichtiger geworden und haben so das Infektionsgeschehen verlangsamt.
Auch Dänemark scheint B.1.1.7 derzeit noch im Griff zu haben. Die Dänen sind im Lockdown (Stringency Index: 63), die Schulen geschlossen. Dänische Forscher schätzen, dass dies so bleiben wird, bis der vulnerable Teil der Bevölkerung geimpft ist. Die Strategie der Regierung: Die Ausbreitung von B.1.1.7 so gut wie möglich zu verzögern und den R-Wert so stark zu senken, dass er auch unter 1 bleibt, wenn die Variante den Grossteil der Infektionen ausmacht.
Reichen die Massnahmen der Schweiz (Stringency Index: 60) aus, um die neue Variante in Schach zu halten? Und was bewirken die angekündigten Lockerungen in den nächsten Monaten? Die Fallzahlen sinken, doch die Fragen bleiben.