Am Morgen des 27. September 2001 stürmt ein 57-jähriger Mann, verkleidet als Polizist, das Zuger Kantonsparlament. Während knapp drei Minuten schiesst er wild um sich, tötet 14 Politikerinnen und Politiker, verletzt Dutzende und richtet sich selbst. Es ist eines der schlimmsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte.
20 Jahre danach: Vier Überlebende schildern im Film «Es geschah am… Das Attentat von Zug» die schlimmsten Minuten ihres Lebens – und wie sie damit umgegangen sind.
Der Analytiker: Josef Lang, Kantonsrat
«Nach dem ersten Knall habe ich sofort gedacht, ein Pultdeckel sei heruntergefallen. Aber das spitzbübische Lachen, das jeweils nach so einem Vorfall kam, das fehlte. Das hat mich irritiert. Und dann ein zweiter Knall. Wieder ein Pultdeckel? Wieder kein Lachen. Danach habe ich jeden einzelnen Schuss gezählt, ich habe ja Militär gemacht. So wusste ich, wann das Magazin leer war. Und dachte: Jetzt ist es fertig. Doch dann hat der Attentäter das Magazin gewechselt.
Ich ging in Deckung, aber offenbar zu wenig tief, denn ich spürte einen Schuss durch mein Haar fliegen. Während des Ausharrens in Deckung dachte ich an meine Mutter: Ich wollte nicht so jung sterben wie sie. Sie starb mit 41 Jahren an einem Herzschlag. Ich war damals 15.
Über 90 Schüsse hat er abgegeben. Auf uns schoss er mit dem Sturmgewehr, der Waffe des Soldaten. Sich selbst richtete er mit einer Pistole, der Waffe des Offiziers, der Waffe der Ehre.
Ich war damals schon mit Andrea zusammen. In einer solchen Situation hätte ich nicht allein sein wollen. Etwas mehr als ein Jahr später haben wir beschlossen zu heiraten. Wir haben alle Überlebenden zu einem Anlass eingeladen, auch als Zeichen, dass unsere Hochzeit ein Akt der Verarbeitung ist. Und es sind alle gekommen.»
Der Historiker Josef Lang war Zuger Kantonsrat und später Nationalrat für die Grünen.
Die gute Seele: Paul Langenegger, Standesweibel
«Als Standesweibel war ich so etwas wie das Mädchen für alles im Parlament: Znüni organisieren, Akten kopieren etc. Ich war gerade im unteren Stock beim Kopierer, als ich den ersten Knall hörte. Ich habe sofort an 9/11 gedacht. Ich habe gelärmt, man soll die Polizei rufen. Ich bekam riesige Angst, habe mich im Keller versteckt. Aber dann habe ich mir gesagt: Nein, du darfst kein Feigling sein, es hat immer noch geklöpft, und da bin ich rauf.
Beim Eingang sah ich schon die erste Leiche. Es war Monika Hutter, die Regierungsrätin aus Baar, meiner Wohngemeinde. Und im Saal war es schlimm: Schreie, und der Geschmack von Blut und Bomben. Die Frau meines Bruders ist ebenfalls umgekommen.
Nach dem Attentat rief mich Paul Hutter an, der Mann von Monika Hutter. Was mit seiner Frau sei, fragte er mich. Und ich konnte es ihm nicht sagen. Ich durfte das doch nicht einfach so am Telefon sagen, dass sie tot ist.
Mein damaliger Chef, Landschreiber Tino Jorio und ich haben uns sofort nach dem Attentat um die Angehörigen gekümmert. Wir waren an den Beerdigungen, haben die Leute immer wieder besucht, haben versucht, ihre Sorgen zu lindern und Probleme zu lösen. Etwa neun Monate später habe ich Tino Jorio gesagt, mir gehe es nicht gut. Er hat das Gleiche gesagt. Wir gerieten gleichzeitig in eine Krise und haben dann psychologische Hilfe in Anspruch genommen.»
Paul Langenegger war Standesweibel des Kantons Zug und CVP-Gemeinderat von Baar.
Der Verletzte: Moritz Schmid, Kantonsrat
«Ich ging unter den Tisch. Er hat immer in diese Reihe geschossen, wo ich lag. Ich wusste nicht mehr, wo ich bin, ich dachte, es sei ein Traum. Leider war es anders. Mein Nachbar wurde tödlich getroffen. Als ich unter dem Tisch war, wollte ich mich schützen und hatte meinen Aktenkoffer hinter mich gestellt. Ich wollte mich bewegen, das hat er gesehen, und er hat mich an der Hand erwischt.
Ich habe mitbekommen, wie er durch den Gang gelaufen ist. Wie er nachladen musste, wie er den Molotow gezündet hat. Ich habe alles mitbekommen, auch seine wütenden Schreie und auch, wie er sich erschossen hat. Ich bin froh, dass er sich erschossen hat. Sonst würde man dem ja wieder begegnen.
Ich ging dann raus, eine Frau gab mir ein Tüchlein für die Hand, und ich wollte ins Spital laufen. Da sah mich ein Kollege, der hat mich dann gefahren. Bis am Sonntag konnte ich nichts sagen über die Tat. Ich konnte einfach nicht reden, da kam ein Kollege und hat seine Erlebnisse geschildert. Und dann hat er gesagt: Jetzt bist du an der Reihe.
Ich führte damals ein Gipsergeschäft, aber ich konnte nicht mehr auf der Baustelle arbeiten, habe dann nur noch das Administrative gemacht. Die Hand schmerzt heute noch, je nach Wetter. Aber ich halte das aus. Es ist eine harte Geschichte. Man vergisst es nie. Vor allem in der Nacht ist es schlimm.»
Moritz Schmid aus Walchwil (ZG) führte ein Gipsergeschäft und war für die SVP im Kantonsrat.
Die Helferin: Manuela Weichelt, Kantonsrätin
«Ich dachte an meinen Partner. Wir waren frisch zusammen und ich fand es schade, dass ich in dieser Phase der Verliebtheit sterben muss.
Ich blieb unverletzt. Im Saal sah ich einen Kollegen, der stark verletzt war. Sein Gesicht war zerschossen. Er sass noch auf dem Stuhl. Wir trugen ihn mit dem Stuhl aus dem Saal. Zum Glück dachte noch jemand daran, ihm ein Tuch über den Kopf zu legen, draussen warteten ja schon die Medien. Mit dem Stuhl luden wir ihn in den Krankenwagen und fuhren ins Spital. Die Chefärzte warteten dort, ihre erschrockenen Gesichter vergesse ich nicht mehr. Sie gaben mir einen Arzt und Morphium mit – ich bin ausgebildete Krankenschwester. Wir versuchten, die verletzten Menschen zu betreuen und es kam mir eine Ewigkeit vor, bis alle ins Spital überführt werden konnten.
Danach kam das Trauma. Ich stand am Morgen auf, strich ein Butterbrot, vergass es aber zu essen. Ich konnte keinen Satz mehr richtig schreiben. Ich brauchte psychologische Hilfe. Es dauerte neun Monate, bis ich wieder voll arbeitsfähig war. Ich arbeitete damals in der Kantonsverwaltung von Graubünden, die waren zum Glück sehr verständnisvoll.
Ich fragte mich oft: Wieso habe ich überlebt? Wieso stirbt ein Kollege, der frisch Vater geworden war? Ich habe keine Antwort bekommen. Und heute kann ich es so annehmen. Ich bin wahnsinnig dankbar, dass ich noch leben darf.»
Die Gesundheitsfachfrau Manuela Weichelt wurde später Regierungsrätin in Zug und ist heute Nationalrätin für die Grünen.