Auch im zweiten Anlauf hat der Nationalrat die Debatte über die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» (Selbstbestimmungs-Initiative) nicht abgeschlossen (siehe Box). Im Vorfeld hatten sich mehr als 80 Einzelredner gemeldet, zu Wort gekommen sind bisher knapp die Hälfte.
Am Montag nach 19 Uhr geht die Debatte weiter, mit einer Open-end-Sitzung. Dagegen hatte sich die SVP vergeblich gewehrt. Ein Ordnungsantrag von SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (SVP/ZG) lehnte eine Mehrheit im Nationalrat am Dienstag ab. Aeschi hatte moniert, dass eine Sitzung, die voraussichtlich bis nach Mitternacht dauern wird, dem Geschäftsreglement des Nationalrates widerspreche. Das Geschäft sei nicht dringlich, die Initiative könne noch bis Mitte Februar 2019 behandelt werden.
Das weckte bei SP-Fraktionschef Roger Nordmann den Verdacht, dass die SVP das Geschäft verschleppen will, damit die Abstimmung erst später im Wahljahr vors Volk kommt und zur Mobilisierung von SVP-Wählern beiträgt.
Auch der «Blick» rechnete nach, dass die Abstimmung spätestens am 19. Februar 2019 vors Volk kommt, wenn diese Woche die Schlussabstimmung stattfinden kann. Zudem hat «Blick» bekanntgemacht, wie Thomas Aeschi das Vorgehen minutiös geplant haben soll.
Doch was bezweckt die SVP mit ihrer Verzögerungstaktik? SRF News fragte den Politikberater Mark Balsiger.
SRF News: Der Partei, die die Selbstbestimmungs-Initiative lanciert hat, wird Verzögerungstaktik vor geworfen. Dies, damit die Abstimmung über die Initiative so nah wie möglich am Wahltermin vom Oktober 2019 vors Volk kommt. Was ist dran an dieser Theorie?
Mark Balsiger: Sie ist sehr plausibel, zumal inzwischen das Drehbuch der SVP-Fraktion öffentlich wurde. Es macht einen Unterschied, ob über die Selbstbestimmungsinitiative in diesem November oder erst im nächsten Frühjahr abgestimmt wird.
Verschleppung von populären Geschäften ins Wahljahr, ist das eine gängige Taktik?
Die Parteien versuchen, die Agenda eines eidgenössischen Wahljahrs frühzeitig mitzubestimmen, manchmal mit Erfolg. Die Absicht dahinter ist klar: Wenn eine Partei eines ihrer Kernthemen über Monate weiter beackern kann, schärft sie ihr Profil und kann am Wahltag zulegen. Volksinitiativen eignen sich dabei besonders, weil sie während des üblichen Verlaufs von vier Jahren mehrmals in der Öffentlichkeit verhandelt werden.
Macht das nur die SVP?
Nein, aber die SVP plant ihre Volksabstimmungen seit Mitte der Neunzigerjahre strategisch am Reissbrett. Die Lancierung erfolgt jeweils in einem Wahljahr – schon mehrfach symbolträchtig an einem 1. August. Die Volksabstimmung fällt dann meistens ins nächste Wahljahr.
Andere Parteien haben dieses Erfolgsmodell zu kopieren versucht: Im eidgenössischen Wahljahr 2011 lancierten alle grösseren Parteien – ausser die BDP – eine Volksinitiative. Der Erfolg war allerdings sehr durchzogen.
Was bezweckt man damit?
Eine Partei, die während eines Wahljahres Unterschriften sammelt, bringt ihre Mitglieder besser auf die Strasse. Das gibt viele persönliche Kontakte, Volksnähe und im Idealfall Dynamik – und die Kandidierenden sind dankbar, dass sie nicht nur ihren Flyer und Schöggeli abgeben können, sondern auch noch etwas Substanzielleres zu bieten haben.
Die Volksinitiative wird als Vehikel für den Wahlkampf missbraucht.
Volksinitiativen sind auch Mitgliederwerbung und sie generieren Spenden. Die Volksinitiative wird als Vehikel für den Wahlkampf missbraucht, was sicher nicht die Absicht der Erfinder war.
Welche Art von Initiativen «zieht»?
Zwei Voraussetzungen helfen beim Sammeln enorm: Das Anliegen ist, erstens, mit zwei Sätzen schlüssig zu erklären. Zweitens ist das Thema bereits auf der Medienagenda. Sehr wichtig sind auch Logistik, Erfahrung und Disziplin. Eine Volksabstimmung zu stemmen ist eine riesige Übung. Über eine lange Zeitspanne hinweg am erfolgreichsten sind die SP, die Gewerkschaften und die SVP.
Hat diese Taktik, sich durch eine Volksinitiative ins Gespräch zu bringen, überhaupt Erfolg bei den Wählern? Zahlt sich das aus?
Manchmal sicher, bei der SVP funktioniert die Massage potentieller Wähler gut, obwohl sie erst zwei ihrer Volksabstimmungen an der Urne durchgebracht haben. Stark auf Profilierung und Mobilisierung ihrer Mitglieder setzen auch die Grünen.
Es gibt allerdings auch Parteien, die mit ihren Volksinitiativen auf die Nase fielen: Die FDP musste 2012 die Sammelfrist für ihre «Bürokratie-Initiative» von 18 Monaten bis auf den letzten Tag ausreizen, schaffte die Hürde der 100'000 Unterschriften aber trotzdem nicht – eine Schmach sondergleichen. Und die GLP erhielt 2015 für ihre Volksinitiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» gerade einmal 8 Prozent Ja an der Urne. Das war brutal und demotivierend.
Die Debatte um die Selbstbestimmungs-Initiative der SVP geht am Montag in die dritte Runde – open-end. Hört da überhaupt noch jemand zu?
Was hier abläuft, ist keine Debatte, sondern eine Show für die Medien: Es geht um Aufmerksamkeit, Eigenprofilierung, Gockelgehabe und die Frage, wer kommt mit seinem Zitat in «10vor10». Die Meinungen sind ja gemacht.
Die Fragen stellte Claudia Blangetti.