Der Landesstreik vor 100 Jahren war eine der grössten innenpolitischen Krisen der Schweiz. Das Land stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Ein Oltener Aktionskomitee organisierte einen Generalstreik und stellte Forderungen an die Regierung. Sie wollten Neuwahlen, eine Alters- und Invalidenrente und das Frauenstimmrecht.
Der Bundesrat ging nicht darauf ein. Er setzte die Armee ein, um hunderttausende Streikende in Schach zu halten. Die Chefs der Arbeiterbewegungen wollten Waffengewalt jedoch unbedingt vermeiden, erklärt der Historiker Jakob Tanner.
«Man hat in dieser sehr heiklen Auseinandersetzung gegen die Armee, die 100’000 Soldaten mobilisiert hat, mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet war, bedingungslos kapituliert. Die Streikführer wollten und konnten keinen Bürgerkrieg führen», sagt Tanner.
Als drei Streikende in Grenchen erschossen wurden, hatten die Führer vom Oltener Aktionskomitee den Streikabbruch bereits beschlossen.
Die Arbeiterbewegung wird sichtbar
Viele der 250'000 Streikenden empfanden den Streikabbruch als eine Niederlage. Die Gewerkschaften verloren in der Folge scharenweise Mitglieder. Auch die Einheit der Linken zerfiel: Die Radikalen gründeten die kommunistische Partei. Die Sozialdemokratie musste sich neu formieren. Doch dabei, sagt Tanner, konnte sie immerhin auf eine indirekte Wirkung des Streiks zählen.
Tanner: «Der Landesstreik hat die Visibilität der Arbeiterbewegung massiv erhöht. Vorher wussten viele nicht, dass es eine gut organisierte Sozialdemokratie in der Schweiz gibt – mit der als Verhandlungspartner gerechnet werden muss.»
Bürgerlicher Sinneswandel
Bei den Bürgerlichen seien die Stimmen, die soziale Reformen verlangten, nach dem Streik zunehmend auch lauter geworden. Die Schere zwischen Arm und Reich war vielen zu weit aufgegangen.
Doch vor allem sahen Bürgerliche grosse Chancen, die Schweiz als europäischen Finanzplatz zu entwickeln. Deshalb wollten sie vermeiden, dass das Image der Stabilität durch soziale Unruhen beschädigt wird.
So machte es auch für das Bürgertum Sinn, die Arbeiterbewegung in das System einzubinden. Damit wurde die Stabilität des politischen Systems durch die Berücksichtigung der Opposition gestärkt.
Erfolge des Streiks
Mit dieser Einsicht kam ein Prozess in Gang, in dem die Umsetzung der Streikforderungen – trotz der Niederlage – anfing. In kleinen Schritten. Bei einer zentralen Forderung ging es aber schnell.
Die 48-Stunden-Woche war eines der Kernthemen während den Protesten. Unmittelbar nach dem Streik kam hier die Diskussion ins Rollen. So sagte der Nationalrat nur ein halbes Jahr nach dem Streik Ja zur 48-Stunden-Woche. Bei anderen Forderungen – wie der nach einer AHV – ging es harziger. Aber es kam Bewegung ins Ringen um soziale Reformen.
Mitte der 1920er Jahre wurde ein Verfassungsartikel geschaffen, der die Einführung der AHV vorsah. Es dauerte aber nochmals mehr als 20 Jahre bis die AHV dann tatsächlich eingeführt wurde.
Linke Rückschläge
Das Klima blieb aber hart. Streiks gehörten weiter zum Arbeitskampf und es gab neue Rückschläge für die Linken. Mit dem Proporz-Wahlrecht hofften die Sozialdemokraten zu einem Schwergewicht im Nationalrat zu werden. Doch die Wahlen von 1919 zeigten, dass es dazu mehr Zeit braucht.
Beim Frauenstimmrecht ging es sogar bis 1971, bis die Streikforderung umgesetzt war. Doch der Historiker Tanner meint, selbst beim Frauenstimmrecht sei vom Generalstreik ein wichtiger Impuls ausgegangen. Er bilanziert die Wirkung des Landesstreiks darum so:
«Es war der Moment, in dem klar wurde: die Schweiz kann als Staatswesen nur dann stabil sein, wenn die globale Entwicklung hin zu einem Sozialstaat auch hier stattfindet. Dies hat sich lange verzögert, auf die Länge dann aber doch durchgesetzt.»
Die grossen sozialen Errungenschaften wurden vom Landesstreik 1918 auf die Schienen Richtung moderne Schweiz gestossen.