Der Politkrimi begann am 3. März 1993 mit der Nichtwahl von Christiane Brunner und endete am 10. März mit der Wahl ihrer «Zwillingsschwester» Ruth Dreifuss. Dazwischen lagen ein schmerzlicher Verzicht und sieben dramatische Tage.
Es sei eine Schwelle für die Frauen in der Schweiz gewesen, und «sie musste mühsam überwunden werden», sagt Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss heute. Zusammen mit Christiane Brunner blickt sie zurück.
Als SP-Bundesrat René Felber seinen Rücktritt aus dem Bundesrat ankündigte, präsentierte seine Partei am 28. Januar 1993 eine einzige Kandidatin für seine Nachfolge: die Genfer Nationalrätin Christiane Brunner. Nach der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen im Jahr 1983 wollte die SP nun endlich eine Bundesrätin.
Brunner, als Kämpferin für die Sache der Frau bekannt, war angriffig und hielt auch während ihrer Kandidatur mit kessen Sprüchen nicht zurück. In den Wochen vor der Bundesratswahl begann eine eigentliche Schlammschlacht gegen sie.
Ein anonymer Brief, in dem von Nacktfotos der Gewerkschafterin die Rede war, zog ihre moralische Integrität in Zweifel. «Die Bilder hat es natürlich nie gegeben», sagt Brunner heute.
Am 3. März wählte die brügerliche Parlamentsmehrheit schliesslich statt Brunner, den Neuenburger SP-Nationalrat Francis Matthey. «Ich ahnte natürlich, dass ich nicht gewählt werde. Ich bereitete mich auf die Situation vor – aufstehen, Matthey die Hand reichen und ihm gratulieren – damit die Emotionen nicht falsch herauskommen», gesteht Brunner.
Linke wie bürgerliche Parlamentarierinnen reagierten geschockt. Von den Zuschauertribünen des Ratssaales ertönte ein gellendes Pfeifkonzert und vor dem Bundeshaus demonstrierten mehrere hundert wütende Frauen. Vereinzelt flogen Schneebälle und Farbbeutel gegen das Parlamentsgebäude. Die Berner Stadtpolizei setzte Tränengas ein. Auch in anderen Städten kam es zu spontanen Protest-Kundgebungen und Mahnwachen.
«Auch ich war wütend. Die Nichtwahl Christianes war nach der Nichtwahl von Liliane Uchtenhagen eine zweite Beleidigung des Parlaments für Frauen und auch für meine Partei», sagt Dreifuss.
Matthey erbat sich Bedenkzeit. Auf Druck seiner Partei und der wütenden Frauen verzichtete er auf den Bundesratsitz. Nach einem Time-Out vertagte die Bundesversammlung ihren Entscheid schliesslich auf den 10. März.
Es folgten turbulente Tage. Der Parteivorstand der SP Schweiz hielt am Samstag 6. März zunächst an einer Einerkandidatur Brunners fest. Am Montag 8. März beschloss die SP-Bundeshausfraktion jedoch eine Doppelkandidatur, um den Bürgerlichen entgegenzukommen. Ruth Dreifuss, Sekretärin des Gewerkschaftsbunds, sollte ihrer Freundin und Mitkämpferin Brunner zur Seite gestellt werden.
«Es war der Wunsch von Matthey, dass man zwei Frauen bringt, damit ich nicht gewählt werde», sagt Brunner. Auch laut Dreifuss gab es auf Druck des Neuenburger SP-Kollegen eine Zweierkandidatur. Beide sagen, es sei eine sehr harte Woche gewesen, Sitzungen an Sitzungen, Diskussion um Diskussion.
Am Tag der Wahl, dem 10. März, strömten gegen 10'000 Menschen auf den Bundesplatz, um ihre Unterstützung für Brunner zu manifestieren. Mit Extrazügen waren sie aus der ganzen Schweiz zur bewilligten Kundgebung angereist. Die Wahl wurde per Radiolautsprecher direkt auf den Bundesplatz übertragen, wo die Voten entweder mit Applaus oder Pfiffen quittiert wurden.
Nach dem zweiten Wahlgang zog Brunner ihre Kandidatur zugunsten von Dreifuss zurück. Diese wurde schliesslich mit 144 von 190 gültigen Stimmen zur zweiten Bundesrätin nach Elisabeth Kopp (FDP) in die Landesregierung gewählt.
Nach der Vereidigung Dreifuss' traten die beiden Frauen vor die Demonstrierenden auf dem Bundesplatz und riefen zur Unterstützung der neuen Bundesrätin und zur Fortsetzung des Kampfes für die Gleichberechtigung auf. Brunner: «Ich musste mit Ruth zusammen auf die Tribühne gehen, um die enttäuschten Frauen zu trösten und ihnen zu erklären, die Wahl sei ein Sieg für die Frau. Das war schwierig und ich musste mich zusammennehmen.»
Die unterlegene Brunner wechselte 1995 vom National- in den Ständerat, wo sie bis 2007 verblieb. In den Jahren 2000 bis 2004 präsidierte sie die SP Schweiz. Bundesrätin Ruth Dreifuss übernahm als 100. Mitglied der Landesregierung das Innendepartement, dem sie bis zu ihrem Rücktritt Ende 2002 vorstand.