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Wilhelm Kaiser wurde als Kantigeist zum Mythos
Aus Regionaljournal Aargau Solothurn vom 29.05.2024. Bild: ZVG/Nachlass Zentralbibliothek Solothurn
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Der «Kantigeist» von Solothurn Er lebte 27 Jahre im Keller einer Schule – bis er zum Geist wurde

Ein Gelehrter wohnte bis in die 1980er-Jahre im Keller der Solothurner Kantonsschule. Auf den Spuren eines rätselhaften Mannes.

Ein langer Gang im Keller einer Schule. Es ist dunkel. In einem Luftschutzkeller beugt sich ein grosser, hagerer Mann über ein Buch. Er lebt hier, schläft auf einem Feldbett und isst oft ein Hirse-Gericht mit Spinat und rohem Ei. Er darf nur dann an die frische Luft, wenn kein Schulbetrieb herrscht, weil er sonst Schülerinnen und Schüler irritieren könnte.

Was klingt wie der Beginn eines gespenstischen Horrorfilms, war während 27 Jahren in der Kantonsschule Solothurn Realität. Dort wohnte der als Kantigeist bekannt gewordene Wilhelm Kaiser, umgeben von seinen Schriften. Wie kam es dazu? Zunächst eine Spurensuche im Keller.

In dem dunklen, fensterlosen Luftschutzkeller wohnte Wilhelm Kaiser von 1955 bis 1983. Ein Wissenschaftler, der zeitlebens in der Nähe seiner Forschungsarbeit bleiben wollte und den Keller einer richtigen Wohnung vorzog.

«Wo meine Werke sind – da kann auch ich sein. Und wo ich bin – da ist mein Werk», dürfte er sinngemäss gesagt haben. Dies schreibt Rolf Weber, der sich jahrelang mit der Person und dem Forscher Wilhelm Kaiser beschäftigt hat. Es ist eine Geschichte, die bis heute in den Gängen der Kantonsschule Solothurn erzählt wird, vom Kantigeist.

Kaiser regt die Fantasie an

«Als ich 1988 in der Kanti war, gab es eine Türe, die geschlossen war und zu der niemand einen Schlüssel dazu hatte», erinnert sich Jan Schneider, der heute an der Kantonsschule als Lehrer unterrichtet. «An einem heissen Tag war ich mit meinen Schülerinnen und Schülern mal im Keller, um uns abzukühlen. Da kam mir die Idee, die Geschichte des Kantigeists aufzuarbeiten.» So entstand als Klassenprojekt ein Buch über Wilhelm Kaiser.

Von Mythen und Legenden rund um Wilhelm Kaiser zu den gesicherten Fakten: Geboren wurde er am 23. Februar 1895. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer studierte er Mathematik, Physik, Chemie und doktorierte in Astronomie. Allerdings fokussierte er sich danach nicht nur auf die klassische Forschung, sondern war fasziniert von der Anthroposophie, der Lehre von Rudolf Steiner.

Er war den Antroposophen zu wissenschaftlich.
Autor: Rolf Weber Autor eines Artikels über Kaiser

In diesen Kreisen eckte er aber nach einer gewissen Zeit an, weil er es wagte, Rudolf Steiner zu korrigieren, schreibt Rolf Weber. Für die Anthroposophen war dies eine Unverschämtheit. Aufgrund seiner Nähe zur Anthroposophie war Kaiser aber auch in der Wissenschaft nicht als Forscher akzeptiert.

Die Anthroposophie

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Die Weltanschauung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Rudolf Steiner begründet. Sie fusst – im Gegensatz zur rein säkularen Wissenschaft – auch auf esoterischen und spirituellen Gedanken und Forschungen.

Das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft befindet sich im Goetheanum in Dornach (SO) bei Basel.

In der Schweiz bekannt sind die Rudolf-Steiner-Schulen, die nach den Grundsätzen der Anthroposophie unterrichten. Ausserdem gibt es mit Weleda eine Heilmittel- und Kosmetikfirma, die nach anthroposophischen Grundsätzen arbeitet.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz

«Er war den Anthroposophen zu wissenschaftlich und der Wissenschaft zu anthroposophisch», sagt Rolf Weber. «Deshalb ist er wohl zwischen Stuhl und Bank gefallen», pflichtet ihm Lehrer Jan Schneider bei. Ein regelmässiges Einkommen hatte Wilhelm Kaiser keines. 1955 musste er seine bisherige Wohnung räumen, da das Haus zur Zentralbibliothek des Kantons Solothurn umgebaut wurde.

Auf der Suche nach einer Bleibe

Deshalb bot ihm das Bildungsdepartement Räume im Untergeschoss der Kantonsschule an. Eigentlich als Lagerort für seine Forschungsarbeiten und nicht als Wohnung. Mehrfach wurde er darauf hingewiesen, dass er dort nicht wohnen könne.

Tatsächlich hatte Kaiser auch andere Zimmer und Wohnungen, störte dort aber früher oder später die anderen Mieterinnen und Mieter mit seiner nächtlichen Arbeit. Mit der Zeit wurde er in der Kantonsschule als schrulliges Original geduldet. Statt ins Wohnen investierte er das wenige Geld lieber in die Publikation und den Druck seiner Werke, schreibt Rolf Weber.

Fast unglaublich, aber schriftlich belegt, ist die Tatsache, dass er von der Schulleitung angewiesen wurde, tagsüber im Keller zu bleiben. Es war ihm explizit verboten, sich während der Unterrichtszeit in den Schulgängen zu zeigen.

Viel Arbeit, wenig Resonanz

Zurück in die Gegenwart: Die Schülerinnen und Schüler der Fachmittelschule haben sich auch mit der komplexen Forschung von Wilhelm Kaiser befasst. Dabei ist Lehrer Jan Schneider aufgefallen, dass er einen anderen, veralteten Ansatz als andere Astronomen verfolgte und die Erde als Zentrum des Universums betrachtete. Rolf Weber, der sich ebenfalls mit den Forschungen auseinandersetzte, betont, dass es für Kaiser nur eine Sonne im Weltall gab und dass diese sich bewege.

Es war nicht tragisch, denn er wollte forschen und hat das getan.
Autor: Nivetha Nagabala Fachmittelschülerin

Seine Aufzeichnungen seien faszinierend, findet Sidra Ramo, die sich im Rahmen der Klassenarbeit damit beschäftigt hat. Kaiser habe einen anderen Weg eingeschlagen als alle anderen und sei dabei geblieben. «Er war nicht verrückt, war intelligent, aber er hat sein Wissen anders eingesetzt.» Das sieht auch Nivetha Nagabala so, die ebenfalls findet, dass Wilhelm Kaiser nicht als traurige, einsame Gestalt in Erinnerung bleiben sollte. «Es war nicht tragisch, denn er wollte forschen und hat das getan.»

Älteres Paar im Freien stehend.
Legende: Wilhelm Kaiser hatte trotz seines Lebens im Keller der Kantonsschule eine Frau. Er heiratete 1950 Helena Jankowska-Wajdzik. Wie viel Zeit die beiden gemeinsam verbrachten, ist nicht bekannt. Das Bild stammt vom Februar 1982. Ein Jahr später starb Kaiser. ZVG/Nachlass Zentralbibliothek Solothurn

Das umfangreiche Werk von Wilhelm Kaiser ist bislang nicht aufgearbeitet worden, eine Anerkennung für seine Forschung erhielt er zeit seines Lebens nie. Als Person ist er dagegen auch nach seinem Tod 1983 nie in Vergessenheit geraten, wenn auch nicht wegen seiner Forschung, sondern als Kantigeist.

Quellen zum Leben des Kantigeists

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Die Fachmittelschulklasse von Jan Schneider hat sich mit dem Leben von Wilhelm Kaiser auseinander gesetzt. Es entstand ein Buch und eine ausführliche Internetseite. Teile der Geschichte sind dort allerdings auch fiktiv.

Rolf Weber hat für die Solothurner Jahrbücher den Nachlass von Wilhelm Kaiser durchforstet und viele Briefe gelesen. Der Artikel kann hier heruntergeladen werden.

Regional Diagonal, 1.6.24, 12:03 Uhr ; 

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