Der Wille zur Aufklärung war gross, als SRF vor einem Jahr die Existenz eines Nazi-Denkmals in Chur publik machte. Heute ist die Bilanz zwiespältig. Historiker und einzelne Mitglieder des Churer Parlaments kritisieren die historische Aufarbeitung der Stadt Chur: sie sei lückenhaft und nicht unabhängig.
Die Stadtregierung wird die Tafel nicht korrigieren.
Streitpunkt ist der Inhalt einer Informationstafel, die Chur auf dem Friedhof Daleu neben dem Nazi-Denkmal aufstellen will, wie ausführlich der SRF-Podcast «Zeitblende» berichtet.
Mitte-Politiker und Historiker Tino Schneider sagte Mitte April im Churer Stadtparlament: «Die Informationstafel geht praktisch allen kritischen Fragen aus dem Weg». Es fehle nicht nur ein Kapitel zum Nationalsozialismus in Chur, die Tafel schweige auch bei der zentralen Frage: «Was wussten die damaligen Churer Behörden, wie verhielten sie sich gegenüber den Nationalsozialisten?».
Nazi-Kontext werde heruntergespielt
SRF hat den Text der Informationstafel Historiker Martin Bucher vorgelegt, der zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Schweiz forscht. Bucher bestätigt, der Text bleibe in vielen Punkten vage: «Das erweckt den Eindruck, dass die Stadt Chur den Bezug des Denkmals zum Nationalsozialismus bagatellisieren will».
In der Einleitung sei beispielsweise eine namenlose deutsche Institution erwähnt, die das Denkmal erbauen liess. Historiker Bucher kritisiert, erst am Schluss des langen Textes werde klar ersichtlich, dass der Auftraggeber – der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – eine stramm nationalsozialistische Organisation war.
Ausgeklammert sei auch die Rolle der damaligen Behörden sowie die Nutzung des Denkmals an Feiertagen des Dritten Reichs. Wie SRF vor einem Jahr berichtete, wurden 1938 auf dem Friedhof Grabkränze mit Hakenkreuzen niedergelegt.
Keine unabhängige Forschung
Im Churer Stadtparlament blieben die kritischen Voten Mitte April ohne Wirkung. FDP-Stadtpräsident Urs Marti lehnte jede Änderung der Informationstafel ab. Die Begründung: Es sei nicht an der Politik, die damalige Zeitgeschichte zu beurteilen. Dies sei Aufgabe der Historiker: «Die Stadtregierung wird die Tafel nicht korrigieren». Das Parlament folgte ihm und stimmte der Informationstafel in unveränderter Form zu.
Auf Nachfrage sagt der Stadtpräsident, verfasst habe den Text im Auftrag der Regierung der ehemalige Stadtarchivar Ulf Wendler. Der Inhalt sei vom Bündner Staatsarchivar Reto Weiss und von Andrea Kauer, der früheren Direktorin des Rätischen Museums überprüft und gutgeheissen worden.
Eine interne Abklärung erfüllt die Kriterien einer faktenbasierten und unabhängigen historischen Forschung nicht.
Dieses Vorgehen kritisiert Sacha Zala, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte: «Eine solche interne Abklärung erfüllt die Kriterien einer faktenbasierten und unabhängigen historischen Forschung nicht».
Dabei spiele keine Rolle, wie gut diese Forschung sei: «Der Verdacht steht immer im Raum, dass neben wissenschaftlichen Kriterien auch politische Überlegungen eine Rolle gespielt haben». Wie bei strittigen juristischen Fragen, sei es auch bei historischen Aufarbeitungen zentral, dass eine unabhängige externe Forschung in Auftrag gegeben werde. Eine Überprüfung durch eine weitere Behörde reiche nicht.
Das Vorgehen der Stadt Chur schützt davor, dass die Politik in der Geschichtsschreibung eine aktive Rolle einnimmt.
Er vertraue auf das Fachwissen seiner Angestellten, entgegnet Stadtpräsident Urs Marti. Mit der Überprüfung durch den Kanton habe man das Vieraugen-Prinzip eingehalten. Das Vorgehen der Stadt Chur berge zwar eine gewisse Gefahr, dass manche Aspekte weniger beleuchtet würden, «umgekehrt schützt das Vorgehen der Stadt davor, dass die Politik in der Geschichtsschreibung eine aktive Rolle einnimmt».
Ein junger Nazi liegt im Denkmal
Vor einem Jahr hatten Churer Regierung und Parlament sich gegen weitere historische Forschungen entschieden. Die Geschichte des Denkmals sei bereits «umfassend» aufgearbeitet, hielt die Stadtregierung in einem Bericht fest: «Weitere Forschungsarbeiten würden voraussichtlich keine neuen Erkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus in Chur liefern».
Die historische Aufarbeitung der Geschichte rund um das Denkmal ist bereits umfassend erfolgt.
Jetzt stiess Historiker Martin Bucher bei seinen Abklärungen auf ein pikantes Detail: Im Denkmal ist auch ein junger Nationalsozialist begraben. Der 19-jährige Hans Joachim Bunzel starb 1946, wurde auf dem Friedhof Daleu begraben und später gemäss Infotext in das Denkmal umgebettet. Laut einem Bericht des Bundesrats von 1946 war Bunzel NSDAP-Mitglied, Hitlerjugendführer und «gefährlich durch seinen Nazi-Fanatismus». Das fehlt auf der Informationstafel.
Streitpunkt NS-Ästhetik
Kontrovers diskutiert wird auch die Frage, was dem Denkmal anzusehen sei. Auf der Infotafel soll dazu stehen, dass beim Denkmal auf jede eindeutige nationalsozialistische Symbolik verzichtet wurde. Der nationalsozialistische Kontext sei deshalb nicht ohne Weiteres erkennbar.
Das Denkmal hat eine Brachialität, die wahrlich für den Nationalsozialismus steht.
«Da hat man es sich zu einfach gemacht», sagt dazu der deutsche Informationsdesigner Andreas Koop, Autor eines Standardwerks zum Erscheinungsbild des Nationalsozialismus: «Nationalsozialistisch ist etwas nicht nur, wenn es ein Hakenkreuz darauf hat».
Koop spricht punkto Gesamterscheinung von einer zurückhaltenden «Auslandsvariante von Nationalsozialismus». Herausragend sei die Theatralik und Dramatik dieses Mini-Mausoleums: «Das Denkmal hat eine Brachialität, die wahrlich für den Nationalsozialismus steht».
Der Historiker schweigt
Der Autor und heute pensionierte Stadtarchivar Ulf Wendler will sich nicht öffentlich zur Kritik an der Informationstafel äussern. Nachträglich liess das Stadtarchiv ausrichten, die Informationstafel sei von Stadtregierung und -parlament so gutgeheissen worden.
Stadtpräsident Urs Marti betont in diesem Zusammenhang, er übernehme die politische Verantwortung. Zum Vorwurf, der nationalsozialistische Kontext des Steins werde auf der Informationstafel verharmlost, sagt er: «Dies ist sicher nicht bewusst so erfolgt». Zur Rolle der damaligen Behörden gebe es im Stadtarchiv keine Akten.
Der Nazi-Stein ist politisch erledigt
Politiker und Historiker Tino Schneider brachte vor einem Jahr den Nazi-Stein auf die politische Bühne der Stadt Chur. Vom heutigen Ergebnis ist er enttäuscht. Es ziehe sich wie ein roter Faden durch die Debatte, «man läuft mit Scheuklappen durch die eigene Geschichte».
Für die Stadt Chur ist der Nazi-Stein als Polit-Geschäft erledigt. Das städtische Parlament beauftragte Mitte April die Stadt, die Informationstafel umzusetzen. Wann die Informationstafel aufgestellt wird, ist laut Stadt noch offen.