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Nazi-Stein in Chur #3: Eine unliebsame Vergangenheit
Aus Zeitblende vom 17.05.2024. Bild: Keystone / Gian Ehrenzeller
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Der Nazi-Stein Lückenhafte Infotafel bei Nazi-Denkmal in Chur wirft Fragen auf

In Chur soll eine umstrittene Informationstafel über das Nazi-Denkmal informieren. Doch der Inhalt der Tafel gehe kritischen Fragen aus dem Weg und spiele den Bezug zum Nationalsozialismus herunter, sagen Politiker und Historiker.

Der Wille zur Aufklärung war gross, als SRF vor einem Jahr die Existenz eines Nazi-Denkmals in Chur publik machte. Heute ist die Bilanz zwiespältig. Historiker und einzelne Mitglieder des Churer Parlaments kritisieren die historische Aufarbeitung der Stadt Chur: sie sei lückenhaft und nicht unabhängig. 

Die Stadtregierung wird die Tafel nicht korrigieren.
Autor: Urs Marti Stadtpräsident Chur

Streitpunkt ist der Inhalt einer Informationstafel, die Chur auf dem Friedhof Daleu neben dem Nazi-Denkmal aufstellen will, wie ausführlich der SRF-Podcast «Zeitblende» berichtet.

Links steht der Granit-Klotz, rechts davon die Infotafel
Legende: «Das deutsche Grabdenkmal» Visualisierungsvorschlag der Stadt Chur für die Informationstafel neben dem Nazi-Denkmal. Stadt Chur

Mitte-Politiker und Historiker Tino Schneider sagte Mitte April im Churer Stadtparlament: «Die Informationstafel geht praktisch allen kritischen Fragen aus dem Weg». Es fehle nicht nur ein Kapitel zum Nationalsozialismus in Chur, die Tafel schweige auch bei der zentralen Frage: «Was wussten die damaligen Churer Behörden, wie verhielten sie sich gegenüber den Nationalsozialisten?».

Nazi-Kontext werde heruntergespielt

SRF hat den Text der Informationstafel Historiker Martin Bucher vorgelegt, der zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Schweiz forscht. Bucher bestätigt, der Text bleibe in vielen Punkten vage: «Das erweckt den Eindruck, dass die Stadt Chur den Bezug des Denkmals zum Nationalsozialismus bagatellisieren will».  

Die umstrittene Informationstafel

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Die Informationstafel soll künftig auf dem Friedhof Daleu in Chur neben dem Denkmal stehen. Die Botschaft der Churer Stadtregierung enthält den gesamten Text. Unter dem Wappen der Stadt Chur und des Kantons Graubünden folgen der Titel «Das deutsche Grabdenkmal», eine Einleitung sowie drei Spalten.

Im Zentrum der Tafel stehen Informationen zu den hier Begrabenen. Diese mittlere Spalte wird flankiert von zwei Chronologien zur Errichtung des Denkmals sowie zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Am Schluss folgt ein Gedenken an die «Opfer, welche die Kriege des 20. Jahrhunderts gefordert haben».

Ein Relikt aus verdrängten Zeiten

Ende Januar 2023 deckte SRF die Hintergründe dieses Monuments auf, was medial und in der Bevölkerung hohe Wellen schlug. Das Monument war laut den SRF-Recherchen Teil eines Heldenkults, mit dem Hitler den Krieg legitimierte. Es wurde 1938 errichtet vom damals stramm nationalsozialistischen Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. 

In der Einleitung sei beispielsweise eine namenlose deutsche Institution erwähnt, die das Denkmal erbauen liess. Historiker Bucher kritisiert, erst am Schluss des langen Textes werde klar ersichtlich, dass der Auftraggeber – der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – eine stramm nationalsozialistische Organisation war.

Ein Mann im Anzug steht hinter einem Stehpult, über seinem Kopf ein Adler mit Hakenkreuz
Legende: Chur, 9. November 1941: Feier im «Deutschen Heim» Theodor Ludwig leitete unter anderem die NSDAP in Chur und war Präsident der Ortsgruppe Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. ETH, Archiv für Zeitgeschichte, Deutsche Zeitung in der Schweiz

Ausgeklammert sei auch die Rolle der damaligen Behörden sowie die Nutzung des Denkmals an Feiertagen des Dritten Reichs. Wie SRF vor einem Jahr berichtete, wurden 1938 auf dem Friedhof Grabkränze mit Hakenkreuzen niedergelegt.

Keine unabhängige Forschung

Im Churer Stadtparlament blieben die kritischen Voten Mitte April ohne Wirkung. FDP-Stadtpräsident Urs Marti lehnte jede Änderung der Informationstafel ab. Die Begründung: Es sei nicht an der Politik, die damalige Zeitgeschichte zu beurteilen. Dies sei Aufgabe der Historiker: «Die Stadtregierung wird die Tafel nicht korrigieren». Das Parlament folgte ihm und stimmte der Informationstafel in unveränderter Form zu.

Auf Nachfrage sagt der Stadtpräsident, verfasst habe den Text im Auftrag der Regierung der ehemalige Stadtarchivar Ulf Wendler. Der Inhalt sei vom Bündner Staatsarchivar Reto Weiss und von Andrea Kauer, der früheren Direktorin des Rätischen Museums überprüft und gutgeheissen worden.

Eine interne Abklärung erfüllt die Kriterien einer faktenbasierten und unabhängigen historischen Forschung nicht.
Autor: Sacha Zala Präsident Schweizerische Gesellschaft für Geschichte

Dieses Vorgehen kritisiert Sacha Zala, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte: «Eine solche interne Abklärung erfüllt die Kriterien einer faktenbasierten und unabhängigen historischen Forschung nicht».

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Nazi-Stein: Historiker Sacha Zala kritisiert interne Abklärungen
aus Regionaljournal Graubünden vom 17.05.2024. Bild: Dodis
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Dabei spiele keine Rolle, wie gut diese Forschung sei: «Der Verdacht steht immer im Raum, dass neben wissenschaftlichen Kriterien auch politische Überlegungen eine Rolle gespielt haben». Wie bei strittigen juristischen Fragen, sei es auch bei historischen Aufarbeitungen zentral, dass eine unabhängige externe Forschung in Auftrag gegeben werde. Eine Überprüfung durch eine weitere Behörde reiche nicht.

Das Vorgehen der Stadt Chur schützt davor, dass die Politik in der Geschichtsschreibung eine aktive Rolle einnimmt.
Autor: Urs Marti Stadtpräsident Chur

Er vertraue auf das Fachwissen seiner Angestellten, entgegnet Stadtpräsident Urs Marti. Mit der Überprüfung durch den Kanton habe man das Vieraugen-Prinzip eingehalten. Das Vorgehen der Stadt Chur berge zwar eine gewisse Gefahr, dass manche Aspekte weniger beleuchtet würden, «umgekehrt schützt das Vorgehen der Stadt davor, dass die Politik in der Geschichtsschreibung eine aktive Rolle einnimmt».

Ein junger Nazi liegt im Denkmal

Vor einem Jahr hatten Churer Regierung und Parlament sich gegen weitere historische Forschungen entschieden. Die Geschichte des Denkmals sei bereits «umfassend» aufgearbeitet, hielt die Stadtregierung in einem Bericht fest: «Weitere Forschungsarbeiten würden voraussichtlich keine neuen Erkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus in Chur liefern».

Die historische Aufarbeitung der Geschichte rund um das Denkmal ist bereits umfassend erfolgt.
Autor: Bericht der Churer Stadtregierung, Mai 2023

Jetzt stiess Historiker Martin Bucher bei seinen Abklärungen auf ein pikantes Detail: Im Denkmal ist auch ein junger Nationalsozialist begraben. Der 19-jährige Hans Joachim Bunzel starb 1946, wurde auf dem Friedhof Daleu begraben und später gemäss Infotext in das Denkmal umgebettet. Laut einem Bericht des Bundesrats von 1946 war Bunzel NSDAP-Mitglied, Hitlerjugendführer und «gefährlich durch seinen Nazi-Fanatismus». Das fehlt auf der Informationstafel.

Ein aufgeschlagener Pass mit dem Foto eines 19-Jährigen mit blonden Haaren und blauen Augen
Legende: «Gefährlich durch seinen Nazi-Fanatismus» Der 19-jährige Hans Joachim Bunzel starb 1946 an Lungentuberkulose und wurde 20 Jahre später laut Infotafel in das Denkmal umgebettet. Bunzel hatte vorher in Davos das «Fridericianum» besucht, eine Schule der Nationalsozialisten. Der Bundesrat wollte ihn nach dem Krieg ausweisen, doch er verstarb vorher. Schweizerisches Bundesarchiv

Streitpunkt NS-Ästhetik

Kontrovers diskutiert wird auch die Frage, was dem Denkmal anzusehen sei. Auf der Infotafel soll dazu stehen, dass beim Denkmal auf jede eindeutige nationalsozialistische Symbolik verzichtet wurde. Der nationalsozialistische Kontext sei deshalb nicht ohne Weiteres erkennbar.

Das Denkmal hat eine Brachialität, die wahrlich für den Nationalsozialismus steht.
Autor: Andreas Koop Informationsdesigner

«Da hat man es sich zu einfach gemacht», sagt dazu der deutsche Informationsdesigner Andreas Koop, Autor eines Standardwerks zum Erscheinungsbild des Nationalsozialismus: «Nationalsozialistisch ist etwas nicht nur, wenn es ein Hakenkreuz darauf hat».

Eine Schrift der 1930er-Jahre

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Legende: «Hier ruhen deutsche Soldaten» Die auf dem Denkmal verwendete Schrift ist laut Andreas Koop angelehnt an die Schrift «Tannenberg», die nach 1933 entwickelt wurde. Der Name stammt von einer Schlacht des Ersten Weltkriegs. Keystone

Bei der Typografie des Schriftzugs «Hier ruhen deutsche Soldaten» handelt es sich laut Andreas Koop um eine «Grotesk Gotisch». Diese Schriftfamilie wurde ab 1933 im nationalsozialistischen Deutschland von Schriftgestaltern entwickelt. Solche Frakturschriften seien damals alltäglich gewesen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Grotesk Gotisch kaum mehr Verwendung gefunden, weil sie als nationalsozialistisch galt. 

Koop spricht punkto Gesamterscheinung von einer zurückhaltenden «Auslandsvariante von Nationalsozialismus». Herausragend sei die Theatralik und Dramatik dieses Mini-Mausoleums: «Das Denkmal hat eine Brachialität, die wahrlich für den Nationalsozialismus steht».

Der Historiker schweigt

Der Autor und heute pensionierte Stadtarchivar Ulf Wendler will sich nicht öffentlich zur Kritik an der Informationstafel äussern. Nachträglich liess das Stadtarchiv ausrichten, die Informationstafel sei von Stadtregierung und -parlament so gutgeheissen worden.  

Kanton Graubünden will Forschungslücken schliessen

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Ausgelöst durch die SRF-Recherche wurde auch der Kanton Graubünden aktiv. Er will mit einem mehrjährigen Forschungsprojekt die Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus im ganzen Kanton aufarbeiten lassen. Die beiden Historiker Christian Ruch und Andrea Tognina erstellen zurzeit eine Auslegeordnung zu den Forschungslücken, die im Sommer präsentiert werden soll.

Stadtpräsident Urs Marti betont in diesem Zusammenhang, er übernehme die politische Verantwortung. Zum Vorwurf, der nationalsozialistische Kontext des Steins werde auf der Informationstafel verharmlost, sagt er: «Dies ist sicher nicht bewusst so erfolgt». Zur Rolle der damaligen Behörden gebe es im Stadtarchiv keine Akten.

Der Nazi-Stein ist politisch erledigt

Politiker und Historiker Tino Schneider brachte vor einem Jahr den Nazi-Stein auf die politische Bühne der Stadt Chur. Vom heutigen Ergebnis ist er enttäuscht. Es ziehe sich wie ein roter Faden durch die Debatte, «man läuft mit Scheuklappen durch die eigene Geschichte».

Für die Stadt Chur ist der Nazi-Stein als Polit-Geschäft erledigt. Das städtische Parlament beauftragte Mitte April die Stadt, die Informationstafel umzusetzen. Wann die Informationstafel aufgestellt wird, ist laut Stadt noch offen.

Rendez-vous, 17.05.2024, 12:30 Uhr

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