«Eine Woche vor dem Wettkampf hat sie uns gebrochen», erzählt Anja an einem Winterabend. Mit ihr am Feuer sitzen fünf weitere ehemalige Trampolin-Nachwuchshoffnungen. Silvana ergänzt: «Sie hat uns die ganze Zeit runtergemacht: Eine auf der Strasse kann es besser als du. Wir haben gedacht, wir können nichts.»
Zweieinhalb Jahre nach den Magglingen-Protokollen gibt es jetzt ein neues Kapitel zu Missständen im Schweizer Turnsport. Das zeigen Recherchen von SRF Investigativ.
Einschüchterungen, Erniedrigungen und Misshandlungen
«Sie hat uns nie geschlagen, aber manchmal wäre es mir lieber gewesen, als dass sie mich psychisch so fertigmacht und mir sagt, dass ich aussehe wie ein Schwein und jeden Tag dicker und dicker werde», erzählt eine weitere ehemalige Athletin. «Manchmal habe ich mir gewünscht, bei einem Sprung auf den Kopf zu fallen, damit ich wenigstens eine Zeit lang nicht mehr ins Training muss.»
Sie ist uns auf die Knie gesessen, damit sie besser gestreckt sind. Viele von uns haben bis heute Knieprobleme.
Sechs ehemalige Kader-Athletinnen und -Athleten erzählen SRF, wie ihre Trainerin sie zwischen 2012 und 2022 angeschrien, gedemütigt, wegen ihres Gewichts schikaniert und ihnen körperliche Gewalt angetan hat. «Sie ist uns auf die Knie gesessen, damit sie besser gestreckt sind. Viele von uns haben bis heute Knieprobleme», erzählt Anja. Insgesamt erzählen rund 20 Personen von ähnlichen Vorkommnissen.
Die Vorwürfe richten sich an die Cheftrainerin des Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrums NKL – ein regionales Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbands STV. Dieser ist auch der wichtigste Geldgeber des Zentrums. Damit stehen erneut gravierende Vorwürfe gegen eine Trainerin eines Leistungszentrums des STV im Raum.
Nach der Veröffentlichung der Magglingen-Protokolle gelobte der Turnverband, mit Missständen aufzuräumen und sie konsequent zu ahnden. Zweieinhalb Jahre später ist er erneut der Kritik ausgesetzt, lange untätig geblieben zu sein. Obwohl der Bund nach den letzten Enthüllungen eine Meldestelle und ein System errichtete, die missbräuchliche Trainingsmethoden künftig unterbinden sollte.
Die Cheftrainerin des Leistungszentrums Liestal will zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen. Ihr Anwalt schreibt auf Anfrage: «Die Trainerin weist die gegen sie erhobenen Vorwürfe als ungerechtfertigt zurück und erachtet sie als persönlichkeitsverletzend. Die Trainerin hat im Rahmen des laufenden Verfahrens der Swiss Sport Integrity ausführlich zu den Vorwürfen Stellung genommen.»
Trainerin suspendiert – und trotzdem weiter tätig
Im Fall läuft eine Untersuchung bei Swiss Sport Integrity. Die Ethik-Stelle untersucht die Vorwürfe seit 2022. Sie befragte die Athletinnen und reagierte sofort. In einem Schreiben an die Trainerin, das SRF vorliegt, schreibt die Beschwerdestelle: «Es ist Ihnen per sofort untersagt, als Trainerin für das NKL Liestal oder einen Club/Verband in der Schweiz tätig zu sein, bis der Ausgang des Verfahrens bekannt ist.»
Im Entscheid schreibt Swiss Sport Integrity von einer «hohen Wahrscheinlichkeit», dass die Trainerin die psychische und physische Integrität der Athletinnen verletzt und damit gegen das Ethik-Statut verstossen habe.
Trotz der Suspendierung arbeitet die Trainerin weiterhin im NKL. Denn: Sie hat bei der Disziplinarkammer des Schweizer Sports Einsprache erhoben. Mit der Begründung, ihre ehemaligen Athletinnen würden eine Kampagne gegen sie fahren, was Swiss Sport Integrity für unglaubwürdig hält. Trotzdem hat die Disziplinarkammer die Suspendierung aufgehoben.
Die Massnahme treffe die Trainerin «in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit und in ihrer persönlichen Freiheit», heisst es in der Begründung. Zudem bestehe «keine unmittelbare Gefahr für die mutmasslichen Opfer der geltend gemachten Ethik-Verstösse».
Erste Meldung bereits 2018
Tatsächlich hat das Leistungszentrum NKL die Trainings nach der Intervention der Athleten gegen die Methoden der Cheftrainerin umorganisiert. Unter anderem darf sie bis auf Weiteres nicht mehr alleine mit Athletinnen in der Halle sein. Wie die Untersuchungsakten zeigen, haben sich einzelne Turnerinnen und Eltern auch für die Trainerin ausgesprochen. Das NKL hat die Vorwürfe der Turnerinnen auf Druck des Sportamts Baselland Swiss Sport Integrity gemeldet.
Besonders brisant: Interne Dokumente des Schweizerischen Turnverbands zeigen, der wichtigste Geldgeber des Leistungszentrums, meldete die Vorkommnisse hingegen zunächst nicht. Laut den Unterlagen kannte der Turnverband die Vorwürfe schon seit 2018.
2018 war beim Verband noch die alte Führungsriege im Amt. Nach den Magglingen-Protokollen musste diese gehen, zu lange hatte sie bei Missständen weggeschaut. Die neue Direktorin, Béatrice Wertli, trat mit einem Versprechen an, Missstände zu beheben und Fehler zu korrigieren.
Neue STV-Führungsriege meldet Verstösse erst spät
Doch: Weitere interne Dokumente zeigen, dass sich im Herbst 2021 ein anderer Trainer beim Turnverband meldet. Er schreibt von «aggressivem Verhalten» der Trainerin gegenüber ihren Athletinnen und fordert den Turnverband auf, Verantwortung zu übernehmen. Eine Nachricht, die direkt an die neue Direktorin, Béatrice Wertli, geht.
Obwohl der Turnverband verpflichtet wäre, solche Vorwürfe seiner Ethik-Kommission beziehungsweise Swiss Sport Integrity zu melden, bleibt eine Reaktion mehrere Monate lang aus. Dokumente, die SRF vorliegen, zeigen: Der Schweizerischen Turnverband hat die Vorwürfe erst an dem Tag gemeldet, nachdem Swiss Sport Integrity die Untersuchung eröffnet hat.
Die Direktorin des STV, Béatrice Wertli sagt dazu: «Wir waren der Meinung, damit eine Untersuchung bei der SSI angestossen zu haben. Erst nach Einreichung unserer Meldung wurden wir über die Eröffnung eines Verfahrens und die Anordnung provisorischer Massnahmen durch SSI informiert», heisst es vom STV weiter.
Untersuchung läuft noch
Das Verfahren von Swiss Sport Integrity läuft noch. Es gilt die Unschuldsvermutung für die Trainerin und den Geschäftsleiter des NKL, gegen den eine Untersuchung wegen Verletzung der Fürsorgepflicht läuft. Das Leistungszentrum hält nach wie vor an der Trainerin fest – man wolle die Untersuchung abwarten und wolle nicht vorverurteilen.
Für die sechs ehemaligen Trampolin-Nachwuchshoffnungen, die ihre Sport-Laufbahn wegen der Vorfälle inzwischen fast alle aufgegeben haben, ist das ernüchternd: «Es macht einen sauer, dass sie weiter trainieren darf, als ob nichts gewesen wäre», sagt Leonie.