Bis zu 90 Prozent der Asylbewerber in Schweizer Asylzentren sollen angeblich untertauchen, war am Wochenende in der «SonntagsZeitung» zu lesen. Rechtsbürgerliche Politiker schlagen deshalb Alarm. Andere Zahlen hat das Staatssekretariat für Migration: Gemäss dem SEM verschwinden 20 bis 40 Prozent der Asylbewerber vom Radar der Behörden.
Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe hält die von der «SonntagsZeitung» genannten Zahlen für viel zu hoch. Ihrer Meinung nach braucht es eine Harmonisierung der europäischen Flüchtlingspolitik, um das Abtauchen von Flüchtlingen und Migranten zu minimieren.
SRF News: Die genannten Zahlen zu den untergetauchten Asylbewerbern sind sehr unterschiedlich. Wie viele sind es Ihrer Meinung nach?
Stefan Frey: Das weiss niemand ganz genau. Die in der Presse genannten Zahlen halte ich allerdings für masslos übertrieben und blosse Stimmungsmache. Tatsache ist aber, dass mit der steigenden Zahl an Grenzüberschreitungen die Zahl jener zunimmt, die nicht in ein Regelverfahren eingebunden werden wollen.
Eigentlich sollte es nicht sein, dass Migranten in der Schweiz untertauchen. Was läuft falsch?
Das Ganze ist sehr kompliziert. Es kann durchaus so sein, dass sich die Leute, die in die Schweiz kommen, erst hier merken, wie komplex das Verfahren ist und wie klein ihre persönlichen Chancen vielleicht sind, hier bleiben zu können. Auch könnte es sein, dass der Aufenthaltsstatus, den sie möglicherweise erwarten können, nicht der Bewegungsfreiheit entspricht, die sie sich erhofft haben. Die Gründe sind sehr vielfältig. Ein grosser Fehler ist sicher, dass die Flüchtlinge und Migranten nicht bereits vor der Grenze, spätestens aber, wenn sie die Grenze überschreiten, wissen, was ihre Rechte und Pflichten sind. So könnte möglicherweise verhindert werden, dass manche Menschen aus illusorischen Antrieben untertauchen. Denn das Abtauchen ist so oder so ein grosses Problem und früher oder später eine menschliche Tragödie.
Man könnte auch sagen, durch das Untertauchen möglichst vieler Flüchtlinge und Migranten ist der Staat fein raus – denn die Abgetauchten geben nichts mehr zu tun und kosten auch nichts mehr...
Ich will niemandem diese zynische Sichtweise unterschieben. Es ist eine Tatsache, dass es später ganz sicher Probleme gibt: Die Personen werden etwa bei einer Ausweiskontrolle aufgegriffen und dann beginnt die Prozedur von neuem – möglicherweise unter unguten Voraussetzungen. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass die Behörden daran interessiert sind, die Zahl der Untergetauchten zu erhöhen, damit es weniger zu tun gäbe.
Wie könnte man die Zahl der untergetauchten Menschen verkleinern?
Neben der erwähnten notwendigen Information an der Grenze braucht es in Europa von Schengen/Dublin offene und sichere Fluchtwege. Dafür gibt es verschiedene Methoden, etwa das Botschaftsasyl. Zudem braucht es eine Harmonisierung der Asylverfahren und der Integrationsbemühungen in allen Schengen/Dublin-Staaten. Zudem müssen sich die Flüchtlinge frei bewegen können, wenn sie einen Schutzstatus erhalten haben.
Das sind alles europäische Lösungen, doch diese sind in den letzten Jahren trotz des grossen Flüchtlings- und Migrationsdrucks nicht vorangekommen...
Die Verhältnisse in den grösseren EU-Ländern wie Deutschland, Frankreich oder den nordischen Ländern sind sehr unterschiedlich. Es ist allerdings unbestritten, dass in vielen wichtigen EU-Ländern wegen innenpolitischer Verhältnisse und aus wahltaktischen Gründen die Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht werden. Deshalb werden auf ihrem Rücken menschenunwürdige Massnahmen an den Grenzen, aber auch in den einzelnen Ländern selber ergriffen. Das muss aufhören und einer solidarischen europäischen Flüchtlingspolitik weichen.
Das Gespräch führte Samuel Burri.