Der Türke Ali (Name der Redaktion bekannt) hat eine C-Bewilligung und lebt unauffällig irgendwo in der Schweiz. Seine Vergangenheit aber war bewegt, wie «10vor 10» vor einem Jahr berichtete: Bis 2012 habe er für den türkischen Geheimdienst gearbeitet, sagte Ali. Er habe eine türkische Linksgruppe in der Schweiz infiltriert und ausspioniert. Rapportiert habe er an einen Diplomaten auf der türkischen Botschaft in Bern.
Bundesrat in Sorge
Im Frühling äusserte sich der Bundesrat besorgt über das erhebliche Ausmass, das Spionage in der Schweiz angenommen habe. Gegenüber Radio SRF sagte Verteidigungsminister Guy Parmelin, man sehe, dass einige Länder versuchen würden, ihre Interessen besser zu verteidigen. «Aber in unserem Land muss man das nicht erlauben.»
Der Fall von Ali aber zeigt, dass viele Spione unbehelligt unter uns leben. Sein Fall ist den Schweizer Behörden nämlich bekannt. Und das kam so: Die Linksgruppe, die Ali unterwanderte, schickte ihn Ende 2011 als Kurier mit einem Stück Papier nach Istanbul. Mutmasslich ein Plan für einen Anschlag in der Türkei, sagt Ali. Er hätte das Papier einem Kontaktmann der Linksgruppe bringen sollen.
Enttarnt und bedroht
In Istanbul aber wird Ali von der türkischen Polizei verhaftet. Sie hat die oppositionelle Linksgruppe seit längerem beobachtet. Ali kommt in Haft, aber er wird befreit: Der türkische Geheimdienst habe sich für ihn eingesetzt. Er reist zurück in die Schweiz. Als Spion ist er nun enttarnt. Er fühlt sich nicht mehr sicher, die Mitglieder der Linksgruppen hätten ihn bedroht.
Ali geht zur Polizei, er will Schutz. Ein heikles Unterfangen könnte man meinen: Es kommt einer Selbstanzeige gleich. Die Polizei teilt Ali mit, dass eine andere Abteilung zuständig sei.
Zwei zivile Beamte hätten ihn daraufhin in die Zürcher Bar Basso bestellt. Sie hätten ihn zu seiner Aufgabe befragt und ihm Fotos der türkischen Botschaftsangehörigen gezeigt. Ali identifiziert seinen Chef, der die Schweiz unterdessen verlassen hat, wie er sagt.
Liessen Schweizer Behörden Spion laufen?
Zum Schluss der Einvernahme hätten die Beamten gesagt: Entweder er unterschreibe das Protokoll, dann müsse er mit einer Haftstrafe rechnen. Andernfalls würde man die Sache vergessen. Also sei er gegangen.
Politischer Nachrichtendienst ist verboten und kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Wer also waren diese zivilen Beamten? Auf Nachfrage von SRF geben Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalpolizei an, Ali nicht zu kennen. Beim Nachrichtendienst (NDB) aber heisst es: Der Fall sei bekannt. Kein Wort mehr. Warum hat der Geheimdienst Ali nicht angezeigt? Der NDB gibt kein Interview.
Information oder Strafverfolgung?
Die Interessenlage des NDB sei eine grundlegend andere als die der Strafverfolger, erklärt Claude Nicati. Er war von 2001 bis 2009 stellvertretender Bundesanwalt: «Der Geheimdienst will Informationen.» Es sei wie ein Spiel: «Ich gebe dir eine Info, wenn du mir eine andere Info gibst.» Die Strafverfolgung sei sekundär, das Augenmerk liege auf Informationen, die der Schweiz dienen könnten.
Hinweise auf strafbare Handlungen (…) leitet der Nachrichtendienst direkt und zeitnah an die Bundesanwaltschaft weiter.
Diese Ambivalenz ist in einem internen Memorandum über die Zusammenarbeit zwischen der Bundesanwaltschaft und dem Nachrichtendienst festgehalten.
«10vor10» hat es dank dem Öffentlichkeitsprinzip erhalten. Darin steht einerseits: «Hinweise auf strafbare Handlungen (…) leitet der Nachrichtendienst direkt und zeitnah an die Bundesanwaltschaft weiter». Andrerseits: «Der Quellenschutz (…) ist zu wahren».
Viele Spione auf Botschaften
Auch bei der parlamentarischen Aufsicht über den Nachrichtendienst zeigt man Verständnis dafür, dass sich die Behörden bei Spionen oft passiv verhalten. «Wenn sich die Bundesanwaltschaft permanent mit Angehörigen von ausländischen Botschaften in der Schweiz auseinandersetzen müsste, hätte sie keine Zeit, um wichtigeres zu machen», sagt Claude Janiak, Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation und SP-Ständerat. Janiak spielt darauf an, dass die Zahl der Spione auf Botschaften in der Schweiz hoch ist.
Es lasse sich eine erhebliche Zahl von «Nachrichtendienstoffizieren unter diplomatischer Tarnung» feststellen, steht auch im Geschäftsbericht 2017 des Bundesrats, der im März erschienen ist. Bei einem Staat besteht gar «der begründete Verdacht, dass mehr als ein Viertel des diplomatischen Personals nachrichtendienstlich tätig ist». Um welchen Staat es sich dabei handelt, sagt der Bundesrat nicht. Gemäss NDB ist es nicht die Türkei.
Strafverfolgung nur mit Zustimmung des Bundesrats
Spionage ist ein politisches Delikt, das macht die Strafverfolgung zur Ermessenssache. Das gilt auch für Fälle, denen die Bundesanwaltschaft nachgeht.
Nicht die Strafverfolger entscheiden, ob sie einen Spion ahnden, sondern der Bundesrat. Verbotener Nachrichtendienst sei ein sogenanntes Ermächtigungsdelikt, sagt der emeritierte Strafrechtsprofessor Stefan Trechsel: «Es ist eine politische Frage, ob die Schweiz ihre gute Beziehung zum Staat riskieren will, für den der Betroffene tätig ist.»
Spionagefall Georgien
2012 zum Beispiel lehnte der Bundesrat die Strafverfolgung in einem Fall, der Georgien betraf, ab: Damals spähten zwei georgische Spione zwei Landsleute im Zürcher Hotel Marriott aus.
Die Spione wurden später mit ihren Abhörgeräten von der Polizei entdeckt und verhaftet. «Die Schweiz leistete gute Dienste in Georgien», sagt Ständerat Claude Janiak, Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation. Darum habe man sich nicht in einen internen Kampf des Landes einmischen wollen.
Die Bundesanwaltschaft reicht ihre Gesuche um Ermächtigung zur Strafverfolgung beim EJPD ein. Dort heisst es: «Anders als der Ausdruck ‘Ermächtigung’ vermuten lassen könnte, ist die Ermächtigung der Regelfall». Seit 2011 habe der Bundesrat die Strafverfolgung in drei von vier Fällen von politischem Nachrichtendienst bewilligt. Die Ausnahme war der georgische Spionagefall.
Fast keine Verurteilungen
Trotzdem werden Spione fast nie verurteilt. Beweise zu finden, sei schwierig, heisst es. Dazu kommt, dass viele Spione Diplomaten sind und Immunität geniessen. Im Archiv des Bundesstrafgerichts sind in den letzten 20 Jahren nur zwei Verurteilungen aufgeführt.
Der bekannteste Fall war ein isrealischer Spion des Mossad, der 1998 im Keller eines Wohnhauses in Köniz in flagranti erwischt wurde, als er versuchte, eine Abhöranlage zu installieren. Er wurde mit zwölf Monaten bedingt bestraft.
Die meisten Spione aber leben unter uns. So wie Ali.