- Vor dreissig Jahren war sich der Bundesrat so uneins, wie nie zuvor.
- Das zeigen neue Dokumente aus dem Bundesarchiv, die seit heute frei einsehbar sind.
- Grund des Streits war schon 1991 die Europa-Politik. Damals im Fokus: die bevorstehende Abstimmung über den EWR-Beitritt.
Der neue Band der Reihe «Diplomatische Dokumente der Schweiz» (Dodis) aus dem Jahr 1991 ist seit dem Neujahrstag freigegeben. Dodis wählte 62 Dokumente für den neusten Band aus. Er zeugt von heftigen Diskussionen um den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und den Herausforderungen, mit denen die Schweizer Aussenpolitik durch den Ausbruch des Golfkriegs und der Bürgerkriege in Jugoslawien konfrontiert war.
Der Bundesrat war so gespalten wie nie zuvor.
Während 1990 ein von Hoffnung geprägtes Übergangsjahr gewesen war, stellte 1991 die Schweiz vor eine ganze Reihe neuer Herausforderungen. Die europäische Integration blieb das Hauptproblem. «Die Frage der künftigen Beziehungen mit Europa schien ungewisser denn je, und der Bundesrat so gespalten wie nie zuvor», erklärt dazu der Historiker Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle.
Streit um den EWR
Während 1990 der EWR als «dritter Weg» zwischen Alleingang und dem Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft als einzige tragfähige Lösung erschien, war der Bundesrat im Folgejahr in dieser Frage tief gespalten. Im März schlug der damalige Bundespräsident Flavio Cotti seinem Bundesratskollegen Jean-Pascal Delamuraz vor, die seiner Ansicht nach «demütigenden» EWR-Verhandlungen möglichst schnell zugunsten eines Beitrittsgesuchs zu unterbrechen, wie der neue Dodis-Band aufklärt.
Die Diskussion an der Bundesratssitzung vom 17. April 1991 war demnach beispielhaft für die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gremiums. Finanzminister Otto Stich zeigte sich überzeugt, dass ein schlechter Vertrag niemals als Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden könne. Der EWR-Vertrag stehe dafür, dass die Schweiz zum Satellitenstaat werde.
Aussenminister René Felber unterstrich dagegen die zahlreichen vorteilhaften Punkte, die selbst ein unausgewogener Vertrag für die Schweiz habe. Verteidigungsminister Kaspar Villiger stellte gemäss dem Auszug aus den Archiven fest, die Schweiz begebe sich auf die Schiene einer mit einem Autonomiestatut ausgestatteten Kolonie.
Unter Druck
In Gesprächen mit den europäischen Partnern versuchten die Mitglieder der Landesregierung mehrfach, ihrer Unzufriedenheit über den Gang der Verhandlungen Ausdruck zu verleihen. Der Druck auf Bern war stark, einige sprachen gar von einem «Modernitätsdefizit» der Schweiz.
Schliesslich akzeptierten in der Nacht des 22. Oktobers 1991 die Bundesräte Delamuraz und Felber das Ergebnis der Verhandlungen – und erklärten den Beitritt der Schweiz zur EU zum strategischen Ziel. Im November stellte die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) nüchtern fest, die bevorstehende Abstimmung über den EWR-Vertrag sei «noch nicht gewonnen». Tatsächlich lehnte das Volk den EWR-Vertrag dann ab.
700-Jahr-Feier
1991 feierte die Schweiz auch 700 Jahre Eidgenossenschaft. In diesem Kontext fand die erste Jugendsession statt. Die Jungen verlangten bei dieser Gelegenheit eine solidarische Schweiz. «Die Jungen haben ein aussenpolitisches Programm erarbeitet, das den damaligen Geist der Öffnung und Erneuerung atmet», sagt dazu Zala.