Was haben wir doch nicht schon alles beschlossen: Kein internationaler Güterverkehr mehr auf den Alpenstrassen, höchstens 20 Prozent Zweitwohnungen in allen Gemeinden, die Ausschaffung schwer krimineller Ausländer.
Doch heute fährt immer noch fast eine Million Lastwagen pro Jahr durch den Gotthardtunnel. Die Zweitwohnungsinitiative ist aufgeweicht und bevor ausgeschafft wird, wollen Bundesrat und Parlament den Einzelfall geprüft und Härtefälle berücksichtigt haben.
Stimmt also der Vorwurf, der Volkswille werde zunehmend missachtet? «Ich denke schon», antwortet der Politologe Daniel Bochsler vom Zentrum für Demokratie in Aarau. Allerdings gebe es dafür gute Gründe: «Zunächst haben wir erst in den letzten zehn bis 20 Jahren das Phänomen, dass Initiativen auch tatsächlich angenommen werden. Entsprechend kann der Volkswille auch einmal missachtet werden, weil er ausgesprochen wurde.»
Tatsächlich wurden in den über hundert Jahren zwischen 1891, als die Volksinitiative in der Schweiz eingeführt wurde, und dem Jahr 2000 gerade mal ein Dutzend Initiativen angenommen. Die allermeisten waren gut umsetzbare Verfassungsartikel.
So viele Initiativen wie noch nie
Seit der Jahrtausendwende aber kamen fast nochmals so viele dazu, darunter höchst problematische. Sie widersprechen bestehenden Verfassungsartikeln, internationalen Verträgen oder beidem. Regierung, Parlament und Justiz lehnten sie deshalb ab und setzten sie nachher nicht wortwörtlich um.
In einem System mit Gewaltenteilung habe und bekomme das Volk eben nicht automatisch immer zu 100 Prozent Recht, betont Demokratie-Experte Bochsler. Er verweist auf den Föderalismus, das gesetzgebende Parlament mit zwei Kammern und die Gerichte. Und er fügt an: «Wir haben ein ausgeklügeltes Konkordanz-System, auf das viele Schweizer auch stolz sind. Die Schweizer Demokratie und die Politik bestehen aus mehr als nur aus den Volksabstimmungen.»
In einem System mit Gewaltenteilung hat und bekommt das Volk eben nicht automatisch immer zu 100 Prozent Recht
Gedacht waren Volksinitiativen ursprünglich vor allem als Druckmittel für Gruppierungen, die in Parlament und Regierung wenig Einfluss haben. Heute sind es aber meist die grossen Parteien, die Volksinitiativen lancieren.
Sie brauchen und missbrauchen sie als Mittel im politischen Wettbewerb, wie die Zürcher Politologieprofessorin Silja Häusermann anfügt: «Wenn Volksinitiativen aus wahltaktischen Gründen verwendet werden, ist das sicher eine Form des Missbrauchs der Volksrechte. Denn dazu sind sie nicht gedacht. Da ist nichts Illegales dran, aber es entspricht nicht dem Sinn der Volksinitiative.»
Wenn Volksinitiativen aus wahltaktischen Gründen verwendet werden, ist das eine Form des Missbrauchs der Volksrechte.
Wer sich mit Volksinitiativen profilieren und gegenüber den andern Parteien abgrenzen will, neigt laut Häusermann zu immer radikaleren Vorstössen: Auch zu solchen, die ganz bewusst die Grenzen des Umsetzbaren und des Machbaren ritzten.
Die «Radikalisierungsspirale»
Deshalb ist es dann auch nicht erstaunlich, dass die Umsetzung kompliziert ist. Was wiederum dazu benutzt werden kann, Regierung und Parlament die Missachtung des Volkswillens vorzuwerfen.
Politologe Bochsler nennt dies eine «Radikalisierungsspirale». An dieser drehten nicht nur die Polparteien, sondern auch Regierung und Parlament. Denn sie warnten oft allzu schrill vor bestimmten Initiativen und setzten sie dann doch halbwegs problemlos um.
Das Parlament wird es schon richten
Das verleite die Stimmbürger zu unvorsichtigen Protestvoten nach dem Motto: Auch mal dem Unmut Luft geben und ein unverantwortliches Volksbegehren annehmen. Und all das laut Bochsler mit dem guten Gewissen, dass es das Parlament später wieder zurechtbiegen werde.
Doch je radikaler Volksbegehren würden, desto schwieriger könnten sie zurechtgebogen werden, stellt Häusermann fest. In dieser Dynamik werde die Schweiz noch eine ganze Weile gefangen sein: So lang, bis sich vielleicht die Kosten und negativen Konsequenzen zeigten und sich ein gemässigteres Verhalten einstelle. Also allenfalls, wenn der Leidensdruck wegen innenpolitischen Verfassungskrisen und aussenpolitischer Isolation gross genug geworden ist.