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Schweiz «Durchsetzungs-Initiativen sind problematisch»

Das Lancieren von Initiativen nimmt seit Jahren zu. Und steht ein Wahljahr an, ergreifen die Parteien die Gelegenheit noch öfters. Die Initiative steht immer mehr im Spannungsfeld zwischen Parteiinstrument und Volksentscheid. Ein Interview mit Claude Longchamp.

Legende:
Volksinitiativen, welche seit 1893 zur Abstimmung gelangten. BFS

SRF News Online: Bereits aufs Wahljahr 2011 hin war zu beobachten, dass mehr Initiativen lanciert wurden im Vergleich zu anderen Jahren. Zuweilen wurde sogar von einer Initiativ-Flut gesprochen. Claude Longchamp, Initiativen als Wahlkampf-Vehikel: Trifft das immer noch zu?

Claude Longchamp, Politikwissenschafter: Tatsächlich ist 2010/11 eine Rekordzahl von Initiativen lanciert worden. Allerdings kamen etwa 50 Prozent der angekündigten Volksinitiativen gar nicht zustande. Sie erreichten die erforderliche Unterschriftenzahl nicht. Die Zahl der Initiativen, über die wir schliesslich abstimmen, ist also deutlich bescheidener.

Auch im Vorfeld der kommenden Wahl sind solche Mobilisierungs-Initiativen lanciert worden. Verschiedene Parteien wie SVP, SP und CVP haben angekündigt, dass sie zu den Wahlen spezifische Volksinitiativen lancieren wollen. Grüne und Grünliberale haben bereits solche Volksinitiativen lanciert. Darauf verzichtet haben die BDP und die FDP. Die FDP wegen ihrer schlechten Erfahrung mit dem Unterschriftensammeln bei der letzten Initiative, die nicht zustande gekommen ist. Und die BDP traut sich das Instrument der nationalen Initiative noch nicht zu.

Der Blick auf die Statistik seit 1893 zeigt: Volksinitiativen haben es schwer, sie scheitern meistens. Aber seit 2002 scheint sich das geändert zu haben. Zehn Initiativen waren an der Urne erfolgreich. Was hat sich geändert?

Es haben sich verschiedene Faktoren geändert. Wie gesagt, Initiativen können im Wahlkampf mobilisieren. Sie haben aber noch weitere Funktionen: Sie sensibilisieren die Behörden für Themen, welche unterschätzt werden. Alle Initiativen, welche seit 2004 angenommen worden sind, kann man als solche Sensibilisierungs-Initiativen bezeichnen. Es gibt drei Bereiche, bei denen die Bevölkerung und die Politik bei der Wahrnehmung der Probleme auseinanderklaffen.

Bereich eins: Umweltanliegen. Hier zeigt sich, dass eine Art öko-konservative Grundhaltung in der Bevölkerung viel stärker vorhanden ist als in der Politik. Und dass Initiativen, die einen Schutz der Umwelt – auch in konservativer Hinsicht – verlangen, eine gewisse Chance haben. Typisch hierfür sind die Initiative «für Lebensmittel aus gentechfreier Landwirtschaft» (2005) und die Zweitwohnungs-Initiative (2012). Die beiden Ja können als typische Fälle von öko-konservativen Abwehrreaktionen interpretiert werden.

Der zweite Bereich betrifft vor allem den kulturellen Wandel. Wie zum Beispiel die Minarett-Initiative (2009) und die Initiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» (2010). Diese waren Ausdruck davon, dass ein gewisses Mass an Orientierung und Normvorstellungen von der Bevölkerung nicht mehr mitgetragen werden. Auch die Initiativen rund ums Strafrecht – Verwahrungs-, Verjährungs- und Pädophilen-Initiative – gehören dazu. Diese haben typisch darauf hingewiesen, dass bei Problemen in der Gesellschaft, wie sie von der Bevölkerung wahrgenommen werden und wie sie von der Politik definiert werden, Unterschiede bestehen. Der Hauptkonflikt ist: Die Behörden argumentieren in der Regel juristisch, die Bevölkerung in der Regel aufgrund ihres Lebensgefühls.

Der dritte Bereich deckt die ökonomischen Veränderungen ab und damit auch die Veränderungen der Gesellschaft. Dazu gehören die Abzocker-Initiative (2013) und die Masseneinwanderungs-Initiative (2014). Der Bogen spannt sich über diese drei Bereiche: Ökologie, kulturelle Verhältnisse und Ökonomie. Eines haben sie gemeinsam. Es sind alles Folgeprobleme der Globalisierung und es sind gleichzeitig Probleme, die auf der einen Seite von den Behörden und auf der anderen Seite von der Bevölkerung unterschiedlich gelesen werden.

Die Initiativen nehmen also zu. Leidet der Stimmbürger da nicht an Ermüdungserscheinungen?

Ja, das sieht man sehr wohl. Die politische Agenda wird heute durch ein hohes Mass von Volksinitiativen bestimmt. Den Ausbau der direkten Demokratie haben wir in den letzten Jahren immer abgelehnt. Weder die Beschleunigungs-Initiative noch die Staatsvertragsreferendums-Initiative sind angenommen worden. Das zeigt schon: das Mass an Volksabstimmungen, welche wir zu bewältigen haben, ist im oberen Bereich. Das ist zum Teil auch bei den Parteien zu beobachten. Diese klagen nicht selten darüber, dass sie nicht mehr in der Lage sind, alle Abstimmungsthemen zu behandeln und zu allen wichtigen Abstimmungsthemen Kampagnen zu führen. Sie haben weder die Zeit noch die finanziellen Mittel dazu.

Die SVP hat die sogenannte «Durchsetzungs-Initiative» aufs Tapet gebracht. Ist das eine neue Art und eine neue Qualität von Volksbegehren?

Ja, auf jeden Fall. Wahrscheinlich auch einer der schwierigsten Formen dieser Weiterentwicklung der Initiative. Bisher waren wir immer eher der Meinung, dass es nach einer Ablehnung einer Initiative eine Art Karenzfrist gibt – zumindest informeller Natur – während der das Thema ruht. Zum Beispiel die Abstimmung über die SVP-Einbürgerungsinitiative von 2008. Nach der Ablehnung hat die SVP noch am selben Nachmittag angekündigt, sie werde gleich eine neue Initiative in diesem Bereich lancieren. Die Reaktion in Politik und Medien darauf war heftig. Denn man war der Ansicht, wenn eine Initiative so deutlich abgelehnt wird, solle das Thema eine Weile ruhen.

Neu ist, wenn eine Initiative angenommen wird, dass wir keinen Konsens mehr darüber haben, wer der Eigner der Initiative ist. Die Initianten selber finden, sie seien die Eigner. Sie haben Unterschriften gesammelt und haben schlussendlich den Sieg an der Volksabstimmung errungen. Die Behördensicht fällt da anders aus: Die Mehrheit des Parlaments oder die die Mehrheit der Behörden sei für eine angenommene Volksinitiative zuständig. Die SVP will nicht akzeptieren, dass sie nicht mehr alleine über die Umsetzung bestimmt. Die Initiative ist jetzt nicht mehr ein Parteiinstrument, sondern ihr folgte ein Volksentscheid. Und dieser Volksentscheid darf nicht einfach von einer Partei interpretiert werden.

Wieso sind diese Durchsetzungs-Initiativen so problematisch?

Ich halte sie aus zwei Gründen problematisch. Selbst wenn an der Urne Entscheidungen getroffen wurden, bleiben die Themen auf der politischen Agenda. Damit wird die Agenda immer voller und klärt sich nicht.

Und der zweite Grund: Die Position der Partei soll neu auch in einer unvermittelten Form nach der Abstimmung gelten. Da ist die Frage erlaubt: Wieso haben die Initianten nicht gleich die Durchsetzungsinitiative lanciert und klar gesagt «das ist der Tarif». Mit einer Durchsetzungsinitiative wirkt es ein wenig wie ein Doppelspiel: Man macht eine nicht so extreme Initiative, um damit mehr Chancen bei der Volksabstimmung zu haben. Verlangt dann aber eine eindeutige einseitige Interpretation dieser Initiative. Da würde ich es vorziehen, wenn gleich zu Beginn die eindeutige Initiative zur Abstimmung vorliegen würde.

Das Interview führte Judith Schraner

Claude Longchamp

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Claude Longchamp

Claude Longchamp, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts gfs.bern und Lehrbeauftragter verschiedener Universitäten. Von 1987 bis Mai 2017 hat er Wahlen und Abstimmungen für die SRG-Medien analysiert. Im September 2017 wird er auf Weltreise gehen, die unter @weltreise1718 mitverfolgt werden kann.

Die Initiative

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Eingeführt wird die Volksinitiative 1891. Bereits 1893 kommt die erste Initiative zur Abstimmung: Das Volk sagt mit 60,1 Prozent Ja zu einem Schächtverbot. Von den 191 Volksinitiativen, welche bisher zur Abstimmung gelangten, wurden lediglich 22 angenommen. Dies entspricht einer Erfolgsquote von 11,5 Prozent.

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