- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz erneut in einem Asbestfall wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren verurteilt.
- Hinterbliebene eines an Brustfellkrebs Erkrankten konnten ihre Ansprüche wegen Verjährung nicht durchsetzen. Zu Unrecht, wie die internationale Instanz erklärte.
- Jetzt muss das Kantonsgericht Glarus den Fall erneut prüfen.
Der Erkrankte Marcel Jann (1953 – 2006) wuchs in Niederurnen im Kanton Glarus auf. Während 11 Jahren in seiner Kindheit wohnte er mit seinen Eltern direkt neben der Eternitfabrik. Zu Spitzenzeiten arbeiteten dort bis zu 2000 Personen in der Asbestverarbeitung und stellten Rohre oder Dachplatten her. Eternit Italia wird von der italienischen Justiz vorgeworfen, zwischen 1966 und 1986 für den Tod oder die Erkrankung von mehr als 3000 Arbeitern und Anwohnern verantwortlich zu sein.
2004 wurde bei Marcel Jann asbestinduzierter Brustfellkrebs diagnostiziert, worauf er vor Gericht eine Genugtuung von 110'000 Franken forderte. Nach seinem Tod im Jahr 2006 führten seine Angehörigen die Sache weiter.
Der Fall ging durch alle Instanzen, das Bundesgericht urteilte 2019, der Fall sei verjährt. Wie auch in anderen Fällen brach die Krankheit erst nach Ablauf der damals geltenden absoluten Verjährungsfrist von 10 Jahren aus.
Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt: Der Gerichtshof schreibt, es gebe keine wissenschaftlich anerkannte maximale Latenzzeit zwischen der Asbestexposition und dem Auftreten von Krebs. Es könne 15 bis 45 Jahre oder noch länger dauern, bis die Krankheit ausbreche. Dieser Umstand muss gemäss dem Gericht bei der Bemessung der Verjährungsfrist berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall sei das nicht geschehen. Der Erkrankte habe damit keinerlei Möglichkeit gehabt, fristgerecht zu handeln.
Weiter wurde die Schweiz für die lange Verfahrensdauer verurteilt – das Verfahren ist nämlich während 4.5 Jahren still gestanden, da die Lausanner Richter die Revision des Verjährigsrechts abgewartet hatten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einer Witwe und deren Sohn eine Genugtuung von 20'800 Franken zugesprochen.
Glarner Kantonsgericht muss Fall erneut behandeln
Damit sind die Hinterbliebenen wieder auf Feld eins: Das Glarner Kantonsgericht wird den Fall beurteilen müssen und wird nicht sagen können, er sei verjährt. Das Urteil wird aber auch für andere Betroffene wegweisend sein: Noch immer sterben jedes Jahr über hundert Menschen an den Folgen von Asbest. Für sie wird der Gang vor Gericht wohl einfacher werden.