Der Grenzübergang in Fahy im ehemaligen Berner Jura liegt mitten im Grünen. Viel los ist hier selten. Das ändert sich am 20. Dezember 1977. Ein Grenzbeamter beobachtet einen weissen Renault, der in Richtung Frankreich fährt – und eine Stunde später wieder in die Schweiz zurückkehrt. Für eine Routinekontrolle werden die beiden Insassen auf den Grenzposten mitgenommen.
Dann geht es schnell: Eine Frau zückt ihre Pistole und schiesst auf die beiden anwesenden Grenzbeamten. Sie bleiben schwer verletzt zurück. Nur wenig später kann das vermeintliche Ehepaar in Delémont verhaftet werden. Nicht lange dauert es, bis klar ist: Es handelt sich um eine deutsche Linksterroristin. Ihr Name: Gabriele Kröcher-Tiedemann. Sie gehört der «Bewegung 2. Juni» an, welche als kleine Schwester der «Rote Armee-Fraktion» RAF gilt.
Die Aufregung in der Schweiz ist gross. Die Zeitung «Die Tat» titelt: «Terroristen im Jura – von Loch zu Loch». Die Behörden haben Angst vor Befreiungsaktionen, wie man sie damals aus Deutschland kennt. Kröcher-Tiedemann und ihr Komplize werden im Berner Amtshaus isoliert und eingesperrt.
Anwalt Bernard Rambert, der Mitglied des linken Zürcher Anwaltskollektivs ist, nimmt sich des Falls an. Doch einfach wird es ihm nicht gemacht: «Wir waren vier Anwälte. Aber die ersten paar Wochen liessen sie uns nicht zu den Klienten. Danach sahen wir sie nur durch Trennscheiben, unsere Post wurde geöffnet. Etwas mit den beiden aufzubauen war schwer bei diesen schikanösen Sicherheitsbedingungen, welche wir als Verteidiger hatten.»
Auch die Haftbedingungen seien schwierig gewesen. Isolationshaft, mehrmals pro Nacht wurde das Licht eingeschaltet. Keine Zeitung, kein Radio und keine Besuchsmöglichkeiten in den ersten Monaten.
Prozess mit grossem Sicherheitsaufgebot
Im Sommer 1978 kommt es zum Prozess auf Schloss Pruntrut. Für die Medien ist das damals ein Grossereignis. Jede namhafte grosse Zeitung schickt Korrespondentinnen und Korrespondenten. Historikerin Dominique Grisard hat das Leben Kröcher-Tiedemanns in der Schweiz breit recherchiert: «Das war ein medial sehr sichtbarer und inszenierter Prozess.»
Für die Medien ist die Figur einer weiblichen Terroristin ein gefundenes Fressen, sagt Grisard. Die Widersprüche der Weiblichkeit und der Terroristin seien grosses Thema gewesen in den Medien. «Kröcher wurde als waffentragendes Flintenweib bezeichnet oder als Emanzipationshyäne. Die Angst war, dass die Frauen in der Schweiz mit dem Erhalt des Frauenstimmrechts zu Terroristinnen würden.» Letztlich wird Kröcher-Tiedemann zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, ihr Komplize zu 11 Jahren.
Die Sicherheitsvorkehrungen am Prozess sind gross – eine weiträumige Absperrung, eine Polizei mit Grossaufgebot – und die Täter werden mit einem Helikopter eingeflogen. Unbegründet ist die Angst nicht. Denn kurz nach dem Prozess geht im Berner Amtshaus nach telefonischer Vorwarnung eine Bombe hoch. Verletzt wird wie durch ein Wunder niemand.
Eine eigene Abteilung für Kröcher-Tiedemann
Der Kanton Bern entscheidet nach langem Hin und Her, Kröcher-Tiedemann im Frauengefängnis in Hindelbank unterzubringen. Das Gefängnis hat jedoch keine stark gesicherte Abteilung. Kurzerhand wird eine Hochsicherheitsabteilung gebaut. «Das Schweizer Recht und der Strafvollzug waren auf Terroristinnen nicht vorbereitet», sagt Historikerin Grisard.
Die Tagebücher des damaligen Gefängnisdirektors Fritz Meyer, welche SRF exklusiv öffnen konnte, zeigen, wie unvorbereitet der Kanton Bern auf eine Terroristin ist. Bereits vor dem Prozess schreibt Meyer: «7. Juni 1978: Über die Aufnahme von Terroristen soll weiter verhandelt werden. Die Herren von der Polizeidirektion sehen wirklich die Sache zu einfach an. Auf jeden Fall kann im heutigen Zustand Hindelbank diese Leute nicht aufnehmen».
Ein Jahr später ist es soweit. Die Abteilung ist kaum fertig, da wird Kröcher-Tiedemann nach Hindelbank transportiert. Direktor Meyer notiert: «18. August 1980: Nun ist sie da die grosse Dame Kröcher. Um 11:30 Uhr fährt sie unter grossem Polizeiaufgebot ein und wird sofort in der Terroristenabteilung versteckt. Grosse Aufregung. In der Abteilung fehlt es noch an allen Ecken und Enden. Sogar Monteure sind noch in der Abteilung.»
Sowohl in Bern als auch in Hindelbank versucht Kröcher-Tiedemann, sich mit Hungerstreiks bessere Bedingungen zu erstreiten. Doch vergeblich – laut Meyers Tagebuch wollen die Berner Behörden nicht nachgeben. So schreibt er bereits zwei Jahre vor Kröchers Einweisung nach Hindelbank: «22. November 1978: Sitzung Polizeidirektion. Hungerstreik der Terroristen kommt zur Sprache. Man will abwarten, bis Kröcher und Möller im Koma sind. Dann Einweisung in Gefangenenstation Insel». Auch Anwalt Bernard Rambert setzt sich für bessere Bedingungen ein und versucht, sie als Kriegsgefangene anerkennen zu lassen. Auch dies vergeblich.
Dann wird es ruhiger um Kröcher-Tiedemann. Sie schreibt viele Briefe, tauscht sich mit namhaften Leuten aus. Historikerin Grisard hat sie gelesen: «Anfangs war sie noch kämpferischer drauf und es war ihr ein Anliegen, dass alle politischen Gefangenen in der Schweiz zusammengelegt würden. Mit der Zeit wurde sie pragmatischer und weniger offensiv.» Bis zuletzt setzt sie sich für bessere Haftbedingungen ein.
Behörden verhindern Heirat hinter Gittern
In der Öffentlichkeit tritt sie noch einmal in Erscheinung, als publik wird, dass sie einen Journalisten der Wochenzeitung «WOZ» heiraten will. Die Medien werfen ihr vor, eine Scheinehe eingehen zu wollen. Die Heirat wird von den Behörden jedoch verhindert. Denn mit einer Hochzeit würde sie nach ihrer Entlassung die Auslieferung nach Deutschland entgehen können. «Das zeigt, welche Ängste eine Terroristin wie Gabriele Kröcher-Tiedemann auslösen konnte», folgert Historikerin Grisard.
1987 kommt sie frei und wird nach Deutschland überführt. Dort soll sie die Gefängnisstrafe absitzen, aus der sie Jahre zuvor freigepresst worden war. Und auch der Prozess um die OPEC-Geiselnahme steht noch an. Weil die Beweise nicht ausreichen, wird sie von den Vorwürfen jedoch freigesprochen. 1991 kommt sie frei. Nur vier Jahre später stirbt Kröcher-Tiedemann mit 44 Jahren an Krebs.