Welche Patientinnen und Patienten sollen zuerst behandelt werden und welche erst später? Diese sogenannte Triage mussten Ärztinnen und Ärzte während der Corona-Pandemie machen. Und genau solche Entscheide müssten bei einer zweiten Covid-19-Welle möglichst verhindert werden. Das fordert der Ethiker Mathias Wirth von der Universität Bern zusammen mit anderen Ethikerinnen und Medizinern.
SRF News: Warum ist die Triage aus ethischer Sicht so problematisch?
Mathias Wirth: Die Triage ist deshalb nur ein Mittel der allerletzten Wahl, weil sie viele moralische Probleme mit sich bringt. Das gravierendste ist, dass behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten nicht geholfen wird. Damit setzt die Triage ganz relevante Gebote der Hilfe und der medizinischen Versorgung aus, auch wenn es möglicherweise gute Gründe gibt. Zugleich traumatisiert eine Triage die Angehörigen und das medizinische Personal.
Die Triage setzt relevante Gebote der medizinischen Versorgung aus und traumatisiert Angehörige und medizinisches Personal.
Wird aber eine Triage nicht ohnehin nur im Notfall eingesetzt, wenn es keine andere Lösung gibt?
Das stimmt in der Theorie. In der Praxis hat sich auch in anderen medizinischen Feldern gezeigt, dass solche Mittel des letzten Auswegs («Last Resort») auch eingesetzt werden, weil sie einfach in der Schublade liegen. So ist es in Norditalien zu Triage-Situationen gekommen, obwohl Nachbarregionen und -länder noch freie Kapazitäten hatten. Erst nach einer gewissen Zeit hat man dann gewisse Patienten ausgeflogen. Man nahm also zuerst eine Triage-Situation an, obwohl das nicht der Fall war, solange es transportfähige Personen und alternative Behandlungskapazitäten an erreichbaren Orten gab.
Warum wurde in Norditalien triagiert, obwohl es nicht nötig war?
Das wird die Aufarbeitung der ersten Welle zeigen. Ein Journalistenteam des «Guardian» hat deutlich gemacht, dass Norditalien die EU sehr früh um Hilfe gebeten hat, was allerdings mit Schweigen quittiert wurde. Juristische und politische Aufarbeitung sind hier nötig.
Ein Problem ist, dass die Triage wie ein Instrument der Gerechtigkeit wirkt, und das ist sie unter ganz bestimmten Umständen auch. Wir haben aber insgesamt das Problem, dass wenn wir etwas gerecht nennen, es auch für gut halten. Die Tatsache, dass etwas unter bestimmten Umständen gerecht sein kann, bedeutet aber nicht, dass alle moralischen Probleme weg sind. In unserer Empfehlung weisen wir darauf hin, dass die Probleme der Triage viel besser beachtet werden, um zuerst einmal ganz engagiert nach Alternativen zu suchen.
Die Tatsache, dass etwas unter bestimmten Umständen gerecht sein kann, bedeutet nicht, dass alle moralischen Probleme weg sind.
Die Idee einer Triage mag zwar theoretisch gerecht sein, aber moralisch ist sie problematisch?
Genau. Es ist sozusagen ein böses Gerechtes, das wir da erleben. Es ist irgendwie gerecht, aber trotzdem bleibt ein derart grosser moralischer Überhang, dass alles daran gesetzt werden sollte, auf eine kreativere und kooperativere Weise die Triage zu verhindern.
Das Gespräch führte Marc Allemann.