Nennen wir ihn «Ali». Er ist Mitte 30, besitzt eine Niederlassungsbewilligung C und hat in der Schweiz einen handwerklichen Beruf erlernt. 2006 sei er für den türkischen Geheimdienst MIT angeworben worden, erzählt er «10vor10»: «Die Informationen, die ich meinem Chef geliefert habe, gingen direkt nach Ankara».
Ali sagt, sein Chef sei ein Angestellter der türkischen Botschaft in der Schweiz gewesen. Er habe immer die Limousine der Botschaft benutzt. «Alle MIT-Mitarbeiter sind auf der Botschaft. Aber sie sind keine offiziellen Mitarbeiter.»
Tee trinken und Mitgliederlisten fotografieren
Langjährige Bespitzelung durch offizielle Spione? Die türkische Botschaft in Bern lässt die Anfrage von «10vor10» unbeantwortet. Ali sagt, er habe von 2006 bis 2012 für den Geheimdienst gearbeitet und in dieser Zeit die marxistisch-leninistische Organisation «Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front» observiert. Er sei in Psychologie geschult worden und habe das Vertrauen des Schweizer Anführers zu gewinnen versucht.
Sein Chef schickte ihn an Demonstrationen, Feste und an 1.-Mai-Feiern. Dort habe er mit dem Gruppenführer gesprochen, während sein Chef heimlich Fotos der Anführer machte.
Er habe auch Mitgliederlisten der linken Organisation erstellt. Dafür habe er sich in deren Vereinslokal aufgehalten. «Ich ging oft vorbei, um Tee zu trinken, und um zu schauen, ob es was Neues gibt», erzählt Ali. Die Mitgliederlisten, die der Verein aufgehängt habe, habe er mit dem Handy fotografiert. Diese Angaben habe dann sein Chef nach Ankara weitergeleitet. Ob Repressalien gegen die Mitglieder die Folge waren, könne er nicht sagen.
Spitzelmethoden damals und heute
Alis Schilderungen kommen Jurist und Gülen-Anhänger Ramazan Özgü bekannt vor. Anfangs September sah er seinen Namen plötzlich in einer Sendung des Erdogan-nahen TV-Senders «ATV». Unter dem Titel «Diese Personen stehen in Verbindung mit den Gülen-Terroristen» wurden Schweizer Privatpersonen und Anhänger des islamischen Predigers Fetullah Gülen an den Pranger gestellt.
«Da macht man sich schon Gedanken, ob man in der Schweiz noch in Sicherheit lebt», sagt Özgu dazu. Der Jurist weiss nicht, wie es seiner Familie in der Türkei geht. Sein Telefon werde sicher abgehört, darum spreche er nicht über Privates.
Enttarnt und ausgestiegen
Er habe heute ein schlechtes Gewissen, sagt der frühere Spion Ali. Den Job habe er sechs Jahre lang gemacht, weil er das Geld brauchte. Viel verdient habe er allerdings nicht. Rund 4000 Franken pro Monat, sagt er. 2012 wurde er bei einer Polizeirazzia in der Türkei enttarnt. Darauf sei er aus dem Geheimdienst ausgestiegen.