Die Grosse Kammer des Strassburger Gerichtshofs und damit die höchste europäische Instanz in Menschenrechtsfragen stellt sich in den meisten Punkten hinter die Schweizer Rentnerinnen. Und zwar, weil der Klimawandel existenzielle Folgen habe und damit die Menschenrechte bedrohe.
Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist der Verein Klimaseniorinnen klageberechtigt, allerdings nicht jede einzelne Klimaseniorin. Eine Einschränkung, die offenkundig dazu dient, einer Klageflut vorzubeugen. Die Strassburger Richterinnen und Richter werfen der Schweiz in deutlichen Worten vor, zu wenig zu unternehmen, um dem Klimawandel zu begegnen.
Und sie kritisieren, dass die Schweizer Justiz die Klage der Seniorinnen abgewiesen hat, ohne materiell auf sie einzutreten. Auch damit habe die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Damit eröffnet das Gericht für Klimaschützer weit über die Schweiz hinaus die Möglichkeit, den Rechtsweg zu wählen, wenn auf politischem Weg keine griffigen Klimamassnahmen durchsetzbar sind.
Bundesbern muss handeln
Das ist durchaus nicht unumstritten. Viele lehnen ein solches Vorgehen als undemokratisch ab. Doch all die zahlreichen Einwände, welche die Schweiz im Lauf des Verfahrens gegen die Klage der Klimaseniorinnen vorbrachte, wurden grossmehrheitlich als nicht stichhaltig abgewiesen.
Auf ein so deutliches Urteil gegen die Schweiz haben die Klimaseniorinnen zwar gehofft – damit gerechnet haben sie aber nicht. Deshalb sind viele nun völlig überwältigt nach der Urteilsverkündung. Für alle ist klar: Nun muss Bundesbern handeln. Denn höchstinstanzliche Urteile des EGMR sind verbindlich. In diesem Fall braucht es keine neuerlichen Klagen vor Schweizer Gerichten. Das Urteil kann, ja muss von der Schweizer Regierung direkt umgesetzt werden. Das Ministerkomitee des Europarats wird darüber wachen.
Wachsam und aktiv bleiben wollen auch die Klimaseniorinnen. Sie haben keineswegs vor, sich nach ihrem Triumph vor den Gerichtsschranken aus der Debatte zu verabschieden.
Europäische Justizgeschichte wird geschrieben
Für die Schweiz ist es nun nicht einfach. Ihre offiziellen Vertreter bei der Urteilsverkündung hüten sich, die EGMR-Entscheidung zu kritisieren. Man respektiere sie und werde nun analysieren, wo die Schweiz nachbessern müsse. Das wird nicht zuletzt deshalb schwierig, weil in manchen Bereichen die Regierung und die Behörden gar nicht autonom entscheiden können, vielmehr die Unterstützung des Parlaments und mithin des Stimmvolkes brauchen.
Das indes ist kein rein schweizerisches Problem, ja nicht einmal in erster Linie ein schweizerisches. Denn die Schweizer Klimaseniorinnen schreiben europäische Justizgeschichte. Ihr Vorgehen dürfte wegweisend sein und Folgen haben in sämtlichen 46 Mitgliedsländern des Europarates. Erstmals hat ein internationales Gericht verbindlich entschieden, dass die Menschenrechte verletzt sind, wenn Staaten zu wenig tun, um den Klimawandel zu bekämpfen. Spannende Zeiten für die Klimapolitik. Und die Klimajustiz.