Jeder Tag zählt.
Zuerst muss die Wissenschaft Alarm schlagen. Erst danach bewegt sich die Politik. In ihrem schriftlichen Appell an den Bundesrat vom 12. März fordern 25 Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Bundesrat auf, «weitreichende, eindämmende Massnahmen» gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu beschliessen. «Jeder Tag zählt. Deshalb appellieren wir an Sie, schnell und mutig zu entscheiden und damit unzählige Menschenleben zu retten».
Vier Tage später, am 16. März, ruft der Bundesrat die ausserordentliche Lage aus und gibt sich so die Kompetenzen, die schnelle Entscheide möglich machen. Die Corona-Epidemie, vor der die Wissenschaft seit Wochen warnt, ist definitiv in der Politik angekommen.
Das Waldsterben kann als ökologische Krise zum Prüfstein unserer Demokratie werden.
Mehr als 36 Jahre früher greift in Birmensdorf im Kanton Zürich ein anderer Forscher in die Tasten: Der Schweizer Forstwissenschaftler Fritz Hans Schwarzenbach.
Schwarzenbach ist 1983 Vize-Direktor der eidgenössischen Anstalt für das forstliche Versuchswesen. In seinem Bericht, der im Spätsommer 1983 veröffentlicht wird, ist zu lesen: «Das Waldsterben kann als ökologische Krise zum Prüfstein unserer Demokratie werden». Von da an dominiert das Thema für Monate die Schweizer Politik.
Zwei unterschiedliche Krisen – mit Parallelen
Die beiden Krisen, die aktuelle Coronakrise und das Waldsterben in den 1980er-Jahren, sind natürlich in vielen Aspekten nicht zu vergleichen. Die Pandemie stellt eine unmittelbarere Bedrohung des Menschen dar. Die Datenlage ist besser, der zeitliche Handlungsdruck höher.
Allerdings wird auch das Waldsterben Jahrzehnte zuvor als existentielle Bedrohung empfunden, die schnelles Handeln erfordert. Und die Krise verläuft in Punkten nach einem typischen Muster: Das Thema findet von der warnenden Wissenschaft den Weg in die Politik, löst dort in einer akuten Phase Sofortmassnahmen aus und wird später wieder entlang normaler politischen Konfliktlinien diskutiert (siehe Grafik).
«Langsame» Politik und «langsame» Wissenschaft
Typisch dabei ist, dass es der Wissenschaft zunächst zu langsam geht. Der Lausanner Epidemiologe Marcel Salathé schüttelt heute noch den Kopf, wenn er sich an die Zeit vom Januar bis etwa Mitte März dieses Jahres erinnert. «Die Politik ist im Halbschlaf in diese Krise getorkelt», sagt Salathé heute.
Auch nach dem offenen Brief der Wissenschaft ist er sich zunächst noch nicht sicher, ob das Bundesamt für Gesundheit und der Bundesrat die Lage genug ernst nehmen. Er nervt sich über den in seinen Augen unprofessionellen Umgang mit Ansteckungszahlen, moniert zu knappe Test-Kapazitäten und schreibt frustriert auf Twitter: «In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert. Nach der Aufarbeitung (…) wird kein politischer Stein auf dem anderen bleiben.»
Spätestens hier hat Forscher Salathé die Sprachwelt des Wissenschaftlers verlassen. Stattdessen setzt er eine politische Botschaft an die politischen Akteure ab. Genau wie es jene des Forstwissenschaftlers Schwarzenbach 1983 war. Er schrieb damals, dass man mit einschneidenden Massnahmen nicht zuwarten könne, bis der letzte Beweis für den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und sterbenden Bäumen erbracht sei. Das sei, meinte Schwarzenbach, politisch nicht zu verantworten.
Die Politik reagiert
Auf die Phase der Appelle der Wissenschaft, folgt die Zeit des raschen Handelns, der kurzen Entscheidungswege. Es ist die Phase, in der die Wissenschaft mit ihren Erkenntnissen und Analysen einen wirklich grossen Einfluss hat. Er reicht sowohl auf die Entscheide der Politik, als auch auf die Wahrnehmung der Krise in der Öffentlichkeit.
Was in dieser Krise der Virologe oder die Virologin ist, war in den frühen 1980er-Jahren der Forstingenieur oder der Förster. Sie werden von der Politik zu Rate gezogen oder erklären wissenschaftliche Zusammenhänge im Fernsehen.
In der Corona-Krise finden Wissenschaft und Politik spätestens Ende März zusammen: Rund 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in eine Taskforce gerufen, darunter Marcel Salathé. Es entsteht eine Nähe zwischen Politik und Wissenschaft, die es sonst nicht gibt. Aus der «warnenden Stimme» wird eine «empfehlende Stimme».
«Es gibt Zeiten, da weiss der Politiker nicht, was zu tun ist», sagt CVP-Präsident Gerhard Pfister dazu. Er gehört zu den Parlamentariern, welche die Corona-Politik des Bundesrats unterstützt. Bei der nächsten Krise müsse man die Wisssenschaft womöglich schneller einbinden, sagt er heute.
Beispielloses Tempo der Corona-Krise
Besonders an der Corona-Krise ist das hohe politische Tempo in dieser akuten Phase. Dadurch stellen sich rasch immer neue Fragen an die Wissenschaft. Wie ist es genau mit Corona und den Kindern? Was bedeutet das für die Schulen? Wie lange überlebt das Virus auf Oberflächen? Wie gut kann es sich über die Luft verbreiten? Wann kommt der Impfstoff?
Die Politik möchte rasche Antworten. «Zum Teil waren das sehr spezifische Fragen», sagt Epidemiologe Salathé. «Da mussten wir die Erwartungshaltung dämpfen und sagen, das können wir jetzt einfach noch nicht beantworten.»
Ein Beispiel: Beim Thema Schulschliessungen gab es Anfang März zu wenig Daten, um eine eindeutige Empfehlung zu machen. Trotzdem wollte die Politik von der Wissenschaft wissen, was zu tun sei. War zuvor die Politik aus Sicht der Virenspezialisten und Epidemiologen zu langsam, wünscht sich jetzt also die Politik eine möglichst rasche Wissenschaft.
Kein Notrecht beim «Waldsterben»
Unser «Vergleichs-Krisenfall» Waldsterben ab 1983 folgte zwar punkto politischer Themen-Karriere dem gleichen Muster, das Tempo war aber wesentlicher geringer. Notrecht wurde zwar gefordert, aber anders als in der Corona-Krise nicht ergriffen.
Eine Sondersession zum Thema «Waldsterben» gab es auch, aber erst anderthalb Jahre nach dem Durchbruch des Themas. Für «Corona» räumte das Parlament seine Traktandenlisten schon zwei Monate nachdem die Epidemie die Schweiz erreicht hatte frei.
Das liegt bei der Corona-Krise am ungleich höheren Handlungsdruck: Hohe Todeszahlen und überforderte Spitäler in Italien sowie steigende Infektionszahlen in der Schweiz setzten die Politik in einen Zugzwang, der mit dem «Waldsterben» nicht vergleichbar ist.
Der Abschwung
Niemand weiss heute, ob die Corona-Krise bald überstanden sein wird. Oder ob eine zweite Welle der COVID-19-Epidemie kommt und wie es der Schweiz gelingen würde, mit einer solchen umzugehen.
Vorderhand sind die Fallzahlen aber tief, entsprechend hat seit Mitte April der Handlungsdruck abgenommen und der Ruf nach noch schärferen Massnahmen ist verschwunden. Stattdessen steigen seit über eineinhalb Monaten die Rufe nach einer möglichst schnellen Lockerungspolitik.
Und in der politische Debatte dominieren die wirtschaftlichen Folgen der Krise und die hohen Staatsausgaben. Auch für andere politische Themen abseits von Corona gibt es wieder mehr Raum.
Marcel Salathé, der als Mitentwickler der Tracing-App an einem wichtigen Corona-Projekt des Bundes beteiligt ist, scheint diese neue relative Gelassenheit nicht so recht geheuer zu sein.
«Es besteht die Gefahr, dass die Politik in alte Muster, wieder in den Halbschlaf zurückfällt», befürchtet er, als das Parlament Anfang Mai für die App eine gesetzliche Grundlage fordert und Verzögerungen drohen. Jetzt soll die App wenigstens als Test lanciert werden. «Das sind positive Signale», sagt Salathé.
Das neuartige Corona-Virus wird kaum einfach so verschwinden. Es hat innerhalb von wenigen Monaten das Gesicht der Welt verändert und bestimmt weiterhin wesentliche Aspekte unserers Alltags.
Ein Politikum im freien Fall
Anders sieht es beim Thema «Waldsterben» aus: Ab 1986 befindet sich die Karriere dieses Politikums im freien Fall. Die in der akuten Phase lancierten Massnahmen aber – vom billigeren Halbtax-Abo, über Tempo 80/120 auf den Strassen bis zur Einführung von Katalysatoren und bleifreiem Benzin, wirken bis heute nach.
Nach dem Zusammenhang zwischen Abgasen und sterbenden Bäumen forscht die Wissenschaft noch lange weiter – ohne klare Ergebnisse. In einer ETH-Doktorarbeit von 1996 heisst es: «Eine allgemein vorkommende Beeinträchtigung von Bäumen durch die Luftverschmutzung konnte bisher nicht nachgewiesen werden.» Die Politik hatte zu diesem Zeitpunkt das Interesse am Thema längst verloren.