Der Verfassungsartikel zur Familienpolitik warf keine hohe Wellen, als noch das Parlament darüber beriet. Auch im Abstimmungskampf stand das Thema zunächst im Hintergrund. Abzocker-Initiative und das revidierte Raumplanungsgesetz bestimmten die Schlagzeilen.
Dies änderte sich jedoch mit der Nein-Kampagne der SVP. Gegen eine Million Franken investierte sie in ein «Extrablatt». Dieses wurde an sämtliche Haushalte verschickt. Der Staat wolle den Eltern die Kinder möglichst früh «entreissen», um sie in staatlichen Einrichtungen zu erziehen, warnte die Partei. Zur Illustration dienten weinende Kleinkinder hinter Gittern.
Artikel ist Basis für weitere Gesetze
Die Nein-Parole beschloss auch die FDP – allerdings gegen den Willen der FDP-Frauen und diverser Kantonalsektionen. Einerseits will man keine neuen Staatsaufgaben schaffen. Andererseits warnen die Gegner vor Kosten in Milliardenhöhe. Das Kostenargument weisen die Befürworter aber dezidiert zurück.
Tatsächlich wird der Verfassungsartikel keine unmittelbaren Konsequenzen haben: Die Kosten hängen von der Umsetzung ab. Konkretes müsste das Parlament erst in einem Gesetz regeln. Der Verfassungsartikel schafft jedoch die Voraussetzung dafür, dass gesetzliche Regeln überhaupt möglich sind.
Kantone sollen Handeln
Primär nimmt der Familienartikel die Kantone in die Pflicht. Sie sollen für ein ausreichendes Angebot an Betreuungsplätzen in Krippen, Tagesschulen und Kinderhorten sorgen. Reichen die Bestrebungen der Kantone, der Wirtschaft und privater Organisationen nicht aus, könnte der Bund eingreifen und Grundsätze festlegen.
Er dürfte die Kantone etwa dazu verpflichten, eine bestimmte Anzahl Betreuungsplätze bereitzustellen. Mit dem neuen Verfassungsartikel hätte er auch die Möglichkeit, selber Massnahmen zu treffen oder die Massnahmen der Kantone finanziell zu unterstützen.
Zuwanderung als Argument in der Familienpolitik
Für den Familienartikel machen sich SP, Grüne, CVP, BDP, GLP und EVP stark. Aus ihrer Sicht sollte der Staat Eltern ermöglichen, die Erziehungs- und Erwerbsarbeit nach eigenen Vorstellungen zu organisieren. Echte Wahlfreiheit gebe es aber nur, wenn genügend Betreuungsplätze zur Verfügung stünden, argumentieren sie.
Aus Sicht der Befürworter ist eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch im Interesse der Wirtschaft. Diese ist auf qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen. Die Ja-Komitees bringen in diesem Zusammenhang die Zuwanderung ins Spiel: Würden mehr Mütter arbeiten, bräuchte es weniger ausländische Arbeitskräfte, lautet die Überlegung.
Kinderverzicht für Wirtschaft schädlich
Den Nutzen für die Wirtschaft rückte auch der Bundesrat in den Vordergrund. Heute würden sich viele Frauen wegen der Kinderbetreuung aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Ebenso viele verzichteten zugunsten des Berufs auf Kinder. Diese Entwicklung schade der Wirtschaft und der Gesellschaft, sagte Sozialminister Alain Berset.
Die Wirtschaftsverbände streiten nicht ab, dass die Unternehmen an erwerbstätigen Müttern interessiert sind. Den Verfassungsartikel unterstützen sie aber nicht. Sowohl Economiesuisse als auch der Arbeitgeberverband beschlossen Stimmfreigabe, der Gewerbeverband bekämpft die Verfassungsänderung.
Keine Einigkeit über Krippenplätze
Der Familienartikel geht auf eine parlamentarische Initiative zurück. Motiv war, dass die Verfassungsbasis für eine Familienpolitik heute schmal sei. Umstritten war die Verfassungsbasis nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Anschubfinanzierung des Bundes für Krippenplätze, die 2015 ausläuft. Bisher wurden mit 234 Millionen Franken rund 39'000 Betreuungsplätze geschaffen.
Dass es noch immer an Betreuungsplätzen mangelt, ist für die Befürworter des neuen Verfassungsartikels eine Tatsache. Die Gegner ziehen hingegen auch das in Zweifel.