Seit der Publikation der «Magglingen-Protokolle» ist viel passiert: Es wurde eine Meldestelle für Ethik-Verstösse geschaffen, beim Schweizerischen Turnverband STV traten der Geschäftsführer und der Chef Spitzensport zurück und: Bei den Kunstturnerinnen in Magglingen wurde der Trainerstab ersetzt, neue Hoffnungsträger eingestellt.
Hoffnungsträger, die aber bereits wieder weg sind. Ein Brief, den SRF News einsehen konnte, zeigt, dass es offenbar seit Monaten kriselte in der Halle. Erst kürzlich kam es gar zur Auflösung von Arbeitsverhältnissen.
«Fatale Missstände im Trainerteam»
Der Brief ging von einer Mehrzahl der Nationalkader-Turnerinnen Ende April 2023 an den Turnverband. Im Schreiben werden gravierende Vorwürfe an die Adresse der Cheftrainerin und eines Assistenztrainers laut. Es ist von «fatalen Missständen im Trainerteam» die Rede. Von heftigen Schmerzen wegen unprofessionellen Trainings, von Verletzungen, die nicht ernst genommen werden.
Solche (Miss-) Handlungen seitens der beiden Trainer (…) können wir nicht nachvollziehen und wir hinterfragen ihre fachliche Kompetenz.
Die Athletinnen schreiben, diese Schmerzen würden teils heute noch bestehen. «Solche (Miss-) Handlungen seitens der beiden Trainer (…) können wir nicht nachvollziehen und wir hinterfragen ihre fachliche Kompetenz.»
Im Schreiben ist auch die Rede von permanenten Streitigkeiten im Trainerstab. Für Spitzensportler und -sportlerinnen unhaltbare Zustände. Es seien wenig bis keine sportlichen Fortschritte gemacht worden. Ausserdem schreiben die Kunstturnerinnen: «Die Stimmung unter den Trainern war für uns täglich spürbar, es beeinflusste unser Training negativ. Wir fühlten uns alleingelassen, unsere Psyche litt.»
Beschuldigte reagieren nicht
Die Trainerin und ein Trainer wurden mit den Vorwürfen konfrontiert, haben auf Anfragen von SRF aber nicht reagiert. Es gilt die Unschuldsvermutung. Reagiert hat der Turnverband, er schreibt:
«Der STV hat vor der Kamera bewusst nicht Stellung zu vertraulichen Inhalten und Anliegen der Athletinnen genommen. Dies unter Berücksichtigung des expliziten Wunsches der Athletinnen diesbezüglich sowie auch im Sinne der Wahrung der entsprechenden Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mitarbeitenden.»
Der STV hat vor der Kamera bewusst nicht Stellung zu vertraulichen Inhalten und Anliegen der Athletinnen genommen. Dies unter Berücksichtigung des expliziten Wunsches der Athletinnen ...
Er schreibt weiter, er habe seit längerem intensiv an der Situation im Nationalkader Kunstturnen Frauen gearbeitet. Man habe den Inhalt des Briefes ernst genommen, er sei Teil einer umfangreichen Analyse gewesen, konkret seien unter anderem verschiedene Interventionen und Massnahmen mit verschiedenen Personen durchgeführt worden, etwa mit Athletinnen, Trainerteam, Fachpersonen, Trainingssituation, medizinischem Personal. Dazu gehörten Gespräche mit den Athletinnen. Man habe sich beraten und begleiten lassen durch die Ethikkommission des STV und vorsorglich SSI benachrichtigt, also Swiss Sport Integrity, die Ethik-Meldestelle.
Zum jetzigen Zeitpunkt und zum laufenden Verfahren können wir keine weitere Auskunft geben.
SRF News fragte bei der Meldestelle von SSI nach. Dort bleibt man vage: «Swiss Sport Integrity bestätigt den Erhalt der Meldung und ist dabei, die geäusserten Vorwürfe abzuklären. Zum jetzigen Zeitpunkt und zum laufenden Verfahren können wir keine weitere Auskunft geben.»
Negative Auswirkung auf die Leistung
Sportpsychologin Cristina Baldasarre ist in diesen Fall nicht involviert. Als Expertin für Leistungssportarten, betont sie aber: «Schlechte Trainingsverhältnisse wirken sich auf die sportliche Leistung aus, indem der Athlet ständig negative Emotionen managen muss und gleichzeitig 100 Prozent Leistung erbringen muss, das gibt innere Konflikte.»
Für die Turnerinnen waren das alles keine guten Vorzeichen für die EM im türkischen Antalya Mitte April 2023. Die Schweizerinnen belegten im Team-Wettkampf nur den 17. Rang und verpassten so die WM-Qualifikation. Eine Folge davon: Damit ist schon heute klar, auch die Olympischen Spiele 2024 in Paris finden ohne Schweizer Frauen-Team statt. Die nächste Chance fürs Team, nicht für einzelne Turnerinnen, kommt erst wieder 2028. Für manche Turn-Karriere mehr als ein herber Rückschlag.
Nach der EM in Antalya ging der besagte Brief der Turnerinnen beim STV ein. Darin wird offensichtlich, dass wiederholt das Gespräch mit den Trainern und dem Verband gesucht worden war. Auch der STV war offenbar bemüht, eine Lösung zu finden.
In der Halle hat sich aber für die Athletinnen wenig bis gar nichts verändert. «Die Situation hat sich für uns zum Unerträglichen entwickelt», schreiben die Athletinnen. Einen Monat, nachdem der Brief beim STV eingegangen war, wurde das Arbeitsverhältnis mit der Cheftrainerin in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst und der eine Assistenztrainer entlassen. Das war vor rund drei Wochen.
Dass der Turnverband den Athletinnen zugehört habe – dafür seien sie dankbar und zuversichtlich, wie sie in ihrem Brief schreiben: «Wir (…) glauben nach wie vor daran, dass in uns allen genug Potenzial steckt, um bessere Leistungen zu erzielen, sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Für uns und die nächste Generation wollen wir kämpfen und alles daransetzen, dass das Schweizer Kunstturnen wieder Erfolge feiern kann.» Sie würden weiter in Magglingen trainieren wollen. Und: Ihre Karrieren seien noch nicht vorbei.
Stand jetzt trainiert das Nationalkader Kunstturnen Frauen – die Besten der Schweiz – ohne Cheftrainerin oder Cheftrainer. Jemanden zu finden, ist offenbar nicht einfach.
Drei Jahre nach den «Magglingen-Protokollen» muss der STV erneut über die Bücher.