Die Mobilitäts-Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie haben verschiedene Interessengruppen euphorisiert: Neben der politischen Linken und der Velo-Lobby wollen vor allem städtische Politiker die Gunst der Stunde nutzen.
«Jetzt oder nie, lasst uns jetzt schnellstmöglich handeln», sagt der Freiburger Gemeinderat Pierre-Oliver Nobs (CSP). In Zürich will Stadtrat Richard Wolff (Alternative Liste) mehr Platz für Velos: «Am Schluss bleibt nichts anderes, als die Velo-Infrastruktur auf Kosten von Parkplätzen und Fahrspuren zu verbessern.»
Am Schluss bleibt nichts anderes, als die Velo-Infrastruktur auf Kosten von Parkplätzen und Fahrspuren zu verbessern.
Die Zahlen scheinen ihnen Recht zu geben: Der Veloverkehr hat in der Corona-Zeit stark zugelegt. Prognosen gehen von einem anhaltenden Trend aus.
Velos für die Freizeit – und Reichere
Ein Forschungsprojekt der ETH Zürich und der Universität Basel erfasst seit rund zwei Jahren das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung mittels Tracking.
Interessanterweise wird der Velo-Boom durch die reicheren Haushalte angetrieben.
Für die Corona-Zeit stellt Beat Hintermann – Co-Projektleiter und Professor für Umwelt-Ökonomie in Basel – fest: «Die Reisen fanden fast ausschliesslich zu Freizeitzwecken statt, also vor allem am Wochenende und nicht zu den normalen Pendelzeiten. Interessanterweise wird der Velo-Boom durch die reicheren Haushalte angetrieben. Bei den ärmeren 40 Prozent sehen wir keinen derartigen Trend.»
Zur Arbeit mit dem Auto
Der Velo-Boom findet also in der Freizeit statt. Wer derzeit arbeiten geht, nimmt das Auto. Hier sind die Zahlen schon fast wieder auf dem Stand von vor der Krise, sodass der Touring-Club Schweiz auf den zunehmenden Pendlerverkehr und mögliche Staus hinweist.
Der öffentliche Verkehr hat sich hingegen vom massiven Einbruch noch nicht erholt. Gemäss Hintermanns Analysen sind es erst 35 Prozent im Vergleich zur Zeit vor Corona. Die grossen Transportunternehmen SBB, BLS und Postauto geben je rund die 50 Prozent der sonst üblichen Passagierzahlen an.
Kann der ÖV seine Spitzen glätten?
Beim ÖV-Branchenverband Alliance Swiss Pass rechnet Sprecher Thomas Ammann bis Ende Jahr nicht mit einer vollständigen Erholung. Doch er hofft auf einen Effekt während den Spitzenzeiten: «Der öffentliche Verkehr ist seit Jahren bestrebt, diese Spitzen zu glätten. Die Krise könnte einen positiven Effekt auf diese Bestrebungen haben.»
Die Krise könnte einen positiven Effekt auf die Spitzen haben.
Dafür reicht laut Hintermann allerdings ein Tag pro Woche Homeoffice nicht. Wenn auch künftig vermehrt im Homeoffice gearbeitet werde, hat das zwar einen nachhaltigen Effekt auf die Mobilität: «Allerdings ist nicht sicher, ob die Firmen bereit sind, Angestellten vermehrt von zu Hause aus arbeiten zu lassen.
Ohne ÖV geht es nicht
Christian Lässer, Tourismus- und Verkehrs-Experte an der Universität St. Gallen, hält es nicht für realistisch, dass die Tagesspitzen im ÖV gebrochen werden können: «Viele Leute müssen pendeln, weil sie auch in Zukunft stationär arbeiten. Die Spitzen sind ja nur ein Erscheinungsbild im Tagesrhythmus.»
Ähnlich ist seine Einschätzung zu weiteren Ideen, die bisher chancenlos waren und nun wieder neu formuliert werden – etwa das Mobility Pricing oder nachhaltige Antriebssysteme. Für Lässer spricht alles dafür, dass Bahn, Bus oder Tram früher oder später die ehemaligen Kapazitäten erreichen: «Der öffentliche Verkehr als Massentransportmittel einer urbanen Schweiz ist nicht mehr wegzudenken.»
Der öffentliche Verkehr als Massentransportmittel einer urbanen Schweiz ist nicht mehr wegzudenken.
Denn der Platz auf den Strassen ist begrenzt und anders als im Freizeitverkehr stören sich die Menschen am Stau zu Berufspendelzeiten.