Die einen wollen nicht ausziehen, die anderen können nicht ausziehen. Die Gründe, wieso Kinder das elterliche Nest nicht verlassen, sind vielfältig. Eines ist allerdings auffällig: Junge Erwachsene bleiben immer länger zu Hause wohnen.
Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat dazu einen kleinen Hüpfer errechnet: Zwischen 1990 und 2000 waren die Kinder beim Wegzug im Schnitt noch 21 bis 22 Jahre alt, zwischen 2010 und 2016 schon 24 bis 25 Jahre.
Das hat Auswirkungen auf das Familienleben. Denn je länger ein Kind zu Hause bleibt, desto öfter kann es zu Konflikten kommen. Familientherapeut Jürgen Feigel begleitet seit Jahren verschiedene Familien. Er sieht die Gründe für die Probleme in den Rollen und den Hierarchien, die sich ändern:
«Die Eltern haben oft noch das Gefühl, sie müssten den (erwachsenen) Kindern reinreden. Zum Beispiel ihnen sagen, wann sie zu Hause sein müssen oder ihnen Aufgaben geben, die sie eigentlich gar nicht mehr wollen.» So sähen Eltern die Kinder in der Familien-Hierarchie immer noch sehr weit unten und wollten ihnen nicht als Erwachsene begegnen. «Was aus Sicht der Eltern auch schwierig ist.»
Für die Eltern mit erwachsenen Kindern zu Hause hat Feigel eine einfache Regel parat: «Stellen Sie klare Regeln für das Zusammenleben auf!»
Sofern also ein solches Familienleben gut funktioniert, kann es die Lebenswelt bereichern: «Kinder erzählen, was sie beschäftigt. Sie bringen ihre Kollegen und Kolleginnen mit nach Hause. Sie helfen im Haushalt mit», sagt Jürgen Feigel. Es finde ein Austausch mit den Kindern auf einer Erwachsenen-Ebene statt.
Das Vewöhnprogramm von Mama
Welche Vorteile haben junge Erwachsene, die das Zusammenleben mit ihren Eltern einer eigenen Wohnung vorziehen? Comparis liess dazu 18- bis 40-jährige Nesthocker befragen. 22 Prozent der Befragten wohnen aus Bequemlichkeit zu Hause, weil sie nicht kochen oder putzen möchten. Mit 28 Prozent schätzen vor allem Männer diesen Vorteil.
Der häufigste Grund, nicht aus dem Hotel Mama auszuchecken, ist aber das Geld. 68 Prozent der befragten Nesthocker geben an, sich keine eigene Wohnung leisten zu können.
Indirekt damit zusammen hängt die Ausbildung. Personen in Ausbildung bleiben wesentlich länger bei den Eltern als solche, die ihre Lehre oder ihr Studium abgeschlossen haben, wie das BFS feststellt. Jürgen Feigel sieht darin einen wesentlichen Vorteil des Wohnens zu Hause: «Die Kinder können nach dem Studium oder der Lehre weitere Ausbildungen machen.»
«Der finanzielle Druck kann je nachdem, wo man hinziehen will – in eine grössere Stadt wie Zürich, Luzern, Bern oder Basel –, eine Rolle spielen», sagt Feigel. Aber: «Man kann ja auch ein WG-Zimmer suchen, um die Miete zu teilen. Deswegen sehe ich den finanziellen Aspekt doch eher sekundär, wenn jemand wirklich ausziehen will.»
Die Gesellschaft ist im Wandel
Wenn das Finanzielle sekundär ist, wo sind weitere Gründe für das veränderte Wohnverhalten zu finden? Gemäss Feigel beeinflussen heute andere Werthaltungen das Familienleben: Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist kollegialer geworden, weniger autoritär als noch vor ein paar Jahrzehnten.
Es gibt auch ganz praktische Gründe: Die Wohnverhältnisse haben sich verändert. Es gibt mehr Platz im Haus oder in der elterlichen Wohnung. Ausbildungen dauern länger oder der junge Erwachsene ist arbeitslos. Und Familien hatten früher allenfalls weniger Geld zur Verfügung. So waren die Eltern froh, wenn die Kinder sobald wie möglich auf den eigenen Beinen stehen konnten.
Dann gibt es auch die Kinder, die nicht ausziehen können. Jürgen Feigel: «Sie haben Schwierigkeiten im Leben oder Schwierigkeiten, das eigene Leben zu gestalten, sei dies durch eine Suchtthematik oder durch eine Abhängigkeit, die sie zu den Eltern haben.»
Wann soll man das Kind aus dem Nest schubsen?
Erwachsen werden bedeutet, Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen. Das gelingt zu Hause bei Muttern eher selten. Deshalb die letzte Frage an den Familientherapeuten: Wann soll das Kind ausziehen?
Der Experte ist zurückhaltend und gibt zu: «Das ist schwierig zu beantworten.» Denn es gebe vieles zu berücksichtigen. Macht das Kind noch eine Ausbildung? Kann es finanziell auf eigenen Beinen stehen? Traut es sich zu, jetzt auszuziehen? Und trauen die Eltern dem Kind zu, dass es das Leben selber meistern kann? Deshalb ist für Familientherapeut Jürgen Feigel klar: Das ideale Alter zum Ausziehen gibt es nicht.