Was wurde nicht alles gesagt und geschrieben, wie stark Corona unsere Gesellschaft verändern werde. Die Sozialanthropologin Fanny Parise forscht darüber an der Universität Lausanne. Seit dem Frühling hat sie über 6000 repräsentativ ausgewählte Personen über Verhalten, Rituale und Spiritualität befragt. Dazu kamen rund 100 eineinhalbstündige Einzelinterviews.
Das Verhältnis zur Zeit habe sich bei allen Befragten seit Ausbruch der Corona-Pandemie in vielfältiger Hinsicht verändert, beobachtete Parise. Die meisten Menschen empfänden, dass die Zeit langsamer vorbeigehe während der Pandemie. Dies, obwohl sich der Alltagsrhythmus sehr unterschiedlich verändert habe.
Für die einen herrsche praktisch Stillstand, weil sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen könnten – für andere habe die Arbeits- und Alltagsbelastung stark zugenommen. Für alle gelte jedoch: Den Takt geben die Regierungen vor mit den Massnahmen, die sie verhängen und die den Alltag bestimmen; mit Einschränkungen, Lockerungen und erneuten Einschränkungen.
Schlangestehen plötzlich positiv wahrgenommen
Als typisches Beispiel, wie diese Massnahmen im Alltag den Umgang mit Zeit verändert haben, nennt Fanny Parise das Schlangestehen vor Läden. Warten sei nicht mehr als lästiges Übel wahrgenommen worden, sondern als Möglichkeit für kurze, soziale Interaktionen mit anderen Menschen.
Fanny Parise bezweifelt aber, dass die Menschen aufgrund dieser Erfahrung nachhaltig geduldiger oder interaktiver würden. Auch nicht solidarischer. Solches Verhalten sei in der zweiten Welle schon weniger ausgeprägt gewesen als es noch in der ersten war.
Vorsätze für die Zeit danach nicht nachhaltig
Auch ein anderes Phänomen sei nicht nachhaltig, prognostiziert die Sozialanthropologin. Die Studie zeige zwar, dass sich viele Menschen, als sie zu Hause bleiben mussten, auf das Wesentliche besonnen hätten und sich vorgenommen hätten, nach der Pandemie gewisse Prioritäten im Leben anders zu setzen.
Doch hätten sozialanthropologische Beobachtungen bei Menschen in Gefängnissen oder Spitälern gezeigt, dass wenig von den Vorsätzen blieb, sobald man sich wieder im normalen Leben befand. Das werde auch bei der Corona-Pandemie kaum anders sein.
Neue Begrüssungsrituale etablieren sich
Trotzdem werde dies nicht spurlos an der Gesellschaft vorbeigehen. Fanny Parise beobachtet kleine Veränderungen im Alltag, von denen sie glaubt, dass davon etwas bleiben werde. Sie nennt als Beispiel die Begrüssungsrituale. Sich die Hand zu reichen oder sich zu küssen sei plötzlich von einer alltäglichen zu einer als gefährlich eingestuften Geste geworden.
Dies könne dauerhaft prägen. Nicht im Umgang mit Freunden oder Familie, aber bei der Begegnung mit Menschen, die man nur flüchtig kennt oder bei der Arbeit. Da sei es gut möglich, dass nach der Pandemie auch ein freundliches Nicken sozial anerkannt werde und man sich nicht mehr die Hand reiche oder sich küsse.
Wie stark solche Mikro-Veränderungen bleiben, hänge auch davon ab, wie lange die Pandemie noch dauern werde, ist die Sozialanthropologin überzeugt. Alles in allem werde unsere Welt nach Corona jedoch nicht so viel anders sein als vor der Pandemie, bilanziert Parise.