Hat die Schweiz ein Problem mit Gewalt gegen Frauen? Das fragt man sich nach zwei Gewalttaten, welche die Öffentlichkeit schockieren. Innerhalb der letzten acht Tage sind in Genf und Zürich Frauen von Männergruppen zusammengeschlagen worden – im Ausgang, an öffentlichen Plätzen.
Breitet sich in der Schweiz ein neues Phänomen aus?
Dass Frauen im öffentlichen Raum von Fremden spitalreif geschlagen werden, schockiert auch Fachleute wie Corina Elmer, die Leiterin der «Frauenberatung sexuelle Gewalt» in Zürich. Derart brutale Gewalttaten, wie die Fälle von Zürich und Genf, seien aber zum Glück selten.
«Aus unserer Sicht haben die Fälle über die Jahre hinweg nicht unbedingt zugenommen. Es gibt aber immer wieder Wellenbewegungen mit einzelnen schweren Fällen wie in Genf und Zürich. Diese erhalten grosse mediale Aufmerksamkeit und werden öffentlich», stellt Elmer fest.
Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet
Das bestätigt auch Josef Sachs, der sich als forensischer Psychiater schon seit Jahren mit Gewalt und Kriminalität befasst. Dass es jetzt innerhalb kurzer Zeit zu zwei so schwerwiegenden Fällen gekommen sei, könne auch statistischer Zufall sein.
Und trotzdem gelte es, das Thema ernst zu nehmen. Denn eine etwas weniger massive Gewalt gegen Frauen sei weit verbreitet, erklärt Sachs: «Die grosse Menge der Gewalttaten liegt unterhalb der Schwelle, bei der wegen der Schwere Anzeige erstattet wird. Es handelt sich dabei um verbale Belästigungen, betatschen, manchmal aber auch Drohungen und Nötigungen.»
Die meisten Gewalttaten gegen Frauen liegen unter der Anzeige-Schwelle.
Grosse Dunkelziffer
Genaue Zahlen darüber sind schwierig zu erhalten, weil eben nicht alle Fälle zur Anzeige kommen. Experte Sachs geht denn auch von einer hohen Dunkelziffer aus. Zu besonders vielen Taten komme es im Sommer, wenn viele Leute draussen unterwegs seien und grosse Events wie Konzerte oder Strassenfeste stattfänden.
Diesen Eindruck teilt auch Johanna Bundi Ryser, die Präsidentin des Schweizerischen Polizeibeamten-Verbandes. Sie stellt fest: Gerade im Ausgang habe sich der Respekt oder die Wertschätzung gegenüber Frauen und das Frauenbild ganz klar verändert. «So werden die Frauen von jungen abgewiesenen Männern rasch einmal als ‹Schlampen› betitelt oder an den Haaren gezogen.» Und solche Erlebnisse dürfe man nicht als Bagatellfälle betrachten, betont die Polizeigewerkschafterin.
Frauen werden rasch einmal als ‹Schlampen› bezeichnet oder an den Haaren gezogen.
Experten begrüssen öffentliche Diskussion
Die angefragten Fachpersonen begrüssen deshalb die öffentliche Diskussion, die nach den schweren Gewalttaten in Genf und Zürich losgegangen ist. Das sei auch ein gesellschaftliches Signal, dass Gewalt an Frauen nicht akzeptiert werde, findet Sachs: «Damit entsteht eine gewisser Druck auf die Gesellschaft und die Politik, damit Massnahmen ergriffen werden. Dazu gehören etwa Informationsmassnahmen, aber auch dass die Polizei in solchen Fällen rasch und konsequent einschreitet.»
Ein heikle Frage ist jene nach der Nationalität der mutmasslichen Täter. So haben laut Zeugenaussagen die inzwischen identifizierten Tatverdächtigen von Genf, die französische Staatsbürger sind, einen nordafrikanischen oder nahöstlichen Hintergrund.
Corina Elmer von der Frauenberatung warnt aber davor, in der Diskussion darauf zu fokussieren: «Sexuelle Gewalt und Gewalt gegen Frauen gehen von allen möglichen Männern quer durch alle Schichten und Nationalitäten aus. Es reicht vom einfachen, auch einheimischen Arbeiter bis zum hochdotierten Professor.»
Keine Pauschalurteile, aber auch keine Tabus
Etwas anders beurteilt das Josef Sachs. Gewisse gesellschaftliche Gruppen seien stärker patriarchal und machistisch geprägt: «Der ethnisch-kulturelle Hintergrund spielt in dem Sinne eine Rolle, dass Gewalt gegen Frauen in patriarchalischen Gesellschaften und Gruppierungen häufiger ist. Denn Gewalt hat immer etwas mit Machtausübung zu tun.» Man dürfe auf keinen Fall ein Pauschalurteil über Männer aus diesen Regionen fällen, betont Sachs, aber man dürfe das Thema auch nicht tabuisieren.