Eine neue Befragung der Universität Fribourg schockiert: Oft wenden Eltern bei der Erziehung körperliche oder psychische Gewalt an. Im Club spricht Barbara Lüthi mit Betroffenen und Experten.
Wenn das Kind einen an die Grenzen bringt
Liedermacher Linard Bardill erzählt von einer realen Situation: Der Bub tritt in die Pfütze, nachdem ihm der Vater ebendies untersagt hat. Kind und Vater werden nass. Im Affekt kassiert der Junge eine Ohrfeige. «Ich wollte ihm sagen: Die Grenze ist hier erreicht, ich will keine nassen Hosen», sagt Bardill. «Der Bub hat ein Bedürfnis und ich möchte Grenzen setzen. Doch wie setze ich Grenzen, ohne dass es knallt?»
Für den Soziologen Dirk Baier ist klar: «Reden Sie mit Ihrem Kind und erklären Sie Ihre Grenze verbal. Grenzen müssten kommuniziert werden – und zwar so, dass sie das Kind auch verstehen kann. Nach einer Ohrfeige weiss ein Kind gar nicht, was die Grenze ist. Ist es, in die Pfütze zu springen oder dass die Hosen des Vaters nass werden?», fragt Baier, und ergänzt: «Vernunft kann man nicht einprügeln.» Die Idee, dass man eine Grenze verdeutlichen kann, indem man jemanden schlägt, sei völlig absurd.
Wenn das Kind schlechte Noten heimbringt
Für viele eine bekannte Szene: Mutter und Sohn brüten über der Mathematikaufgabe. Solange, bis einer weint. «Besonders in unserer Hochleistungsgesellschaft kommen Kinder zunehmend unter Druck», sagt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Wenn Kinder nicht abliefern, kann es zu Erniedrigung und Beleidigungen kommen.
Die Folgen davon seien fatal, sagt Sozialpädagogin Gabriela Kaiser: «Das Kind suche den Fehler bei sich, leide unter vermindertem Selbstwertgefühl und ähnlichen Folgen wie bei körperlicher Gewalt.»
Davon berichtet auch Rapper Andres Andrekson alias Stress: Als er einmal die Hausaufgaben nicht verstanden hatte, drohte seine Mutter, aus dem Fenster zu springen.
Die Kindheit des Rappers war geprägt von Gewalt. «Mein Vater schlug mich fast tot als ich eineinhalb Jahre alt war.» Auch seine Mutter und die Lehrer haben ihn verprügelt: «In der Sowjetunion, in der ich aufgewachsen bin, haben die Eltern einander und die Kinder geschlagen. Gewalt war einfach überall.»
Viele Eltern üben dann Gewalt aus, wenn sie gestresst sind. Aber: «Einen Stressauslöser wird es immer geben», sagt Baier. Die Aufgabe der Eltern sei es, mit dem eigenen, aber auch mit dem Stress der Kinder umgehen zu lernen. «Lernen kann man das etwa in Elternkursen», sagt Gabriela Kaiser, die auch Eltern begleitet. Kantone und Gemeinden bieten zahlreiche kostenlose Angebote an.
Wenn das Kind nicht Klavier üben will
Ein Beispiel von Dirk Baier: Das Kind soll einmal pro Woche Klavier üben, darf aber selbst aussuchen, wann. Was aber, wenn das Mädchen nicht übt? Konsistenz und Hartnäckigkeit seien hier gefragt, so Baier. Man müsse das Mädchen daran erinnern und nachfragen, ob es gespielt hätte.
Dabei dürften Eltern eine starke Haltung gegenüber dem Kind einnehmen, sagt Kaiser. «Autorität ist heute ein böses Wort geworden», meint Stamm: «Wir leben heute nicht mehr in einem Befehls-, sondern in einem Verhandlungshaushalt.»
Das ständige Verhandeln kann Eltern an den Anschlag bringen. Auch die Erziehungswissenschaftlerin kam schon mal an den Anschlag und hat ihre zwei Kinder geohrfeigt: «Das war furchtbar für mich.»
Der beste Erziehungsstil sei der autoritative: «Eine Mischung aus konstanter und klarer Autorität mit klar kommunizierten Regeln – aber auch Liebe und Zuneigung», sagt Baier. Daran erinnert sich auch Bardill, wenn es wieder mal zu eskalieren droht. Der Vater von fünf Kindern setzt sich seit Jahren für eine gewaltfreie Erziehung ein.