Am Wochenende ist in der Romandie geschehen, was lange befürchtet wurde: Ein Streit zwischen zwei Jugendbanden endete tödlich. In Lausanne wurde ein 20-Jähriger getötet, ein 21-Jähriger schwer verletzt.
Wie die Neuenburger Zeitung «Arcinfo» berichtet, gehörten die beiden jungen Männern zu einer Jugendgang aus La Chaux-de-Fonds, die seit Jahren mit einer Bande aus Biel im Streit liegt. Das Ausmass dieser Auseinandersetzung ist über die Jahre immer grösser geworden.
Heute sind mehr Waffen im Spiel.
Angefangen habe es vergleichsweise harmlos, erzählt ein Mitglied der Bieler Gang. Es wurden «Punkte» verteilt, wenn eine Gang die andere blossstellte, einschüchterte oder schlug. «Mittlerweile ist es gefährlich geworden», so der junge Mann. Es gibt Schlägereien mit Messerstichen, Mitglieder, die entführt werden – in den Kofferraum gesteckt und festgehalten. Nun sind die Auseinandersetzungen so weit gegangen, dass ein junger Mann dabei getötet wurde.
Mehr Straftaten von Jugendlichen
Die Banden-Rivalitäten haben mitgeholfen, dass die Jugendkriminalität in der ganzen Schweiz in den letzten fünf Jahren um rund ein Drittel gestiegen ist, wie kürzlich eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigte.
Im Kanton Neuenburg stieg die Zahl der jugendlichen Straftaten gar innerhalb eines Jahres um 36 Prozent, weshalb die Behörden reagierten. Es kam zu Hausdurchsuchungen, Anhaltungen, Personen kamen ins Gefängnis. «Da haben die Jugendlichen realisiert, dass sie nicht in einem Videospiel sind, sondern in der Realität», sagt Daniel Favre von der Neuenburger Polizei. Ein Messerstich könne töten.
Das Ziel ist, einzugreifen, bevor es zu spät ist.
Bei solch gravierenden Fällen bekämen die jungen Leute die volle Härte des Gesetztes zu spüren, sagt der Polizist, der für die Prävention verantwortlich ist. Bei leichteren Fällen jedoch setze die Polizei neu vermehrt auf den sogenannten «Rappel à la loi» – wörtlich übersetzt: eine Mahnung, was im Gesetz steht. Es ist eine Art gelbe Karte für die Jugendlichen, mit der ihnen wird gesagt wird, dass sie sich schuldig gemacht haben, es in diesem Fall aber noch keine Verurteilung gibt.
Dabei werden auch die Eltern in die Pflicht genommen: «Wenn die Kinder keinen Rahmen erhalten, suchen sie die Grenzen anderweitig, und dann ist es zu spät», sagt Favre. Das Ziel sei, einzugreifen, bevor es zu spät ist. Darum würden die Banden auch vermehrt überwacht – unter anderem über ihre Aktivitäten in den sozialen Netzwerken.
Kurzfristige Entspannung
Diese Massnahmen haben zumindest kurzfristig etwas bewirkt: «Es ist festzustellen, dass die Zahl der von Minderjährigen begangenen Straftaten im Jahr 2021 im Vergleich zu den Zahlen für 2020 stabil bleiben oder sogar zurückgehen», schreibt die Neuenburger Polizei auf Anfrage über das laufende Jahr. Die begangenen Taten seien oft dieselben: Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl.
Die Stimmung zwischen den Banden ist jedoch angespannt geblieben. Es brauche nicht viel von der anderen Gang und sie würden reagieren, sagt Finérail, ein junger Mann aus der Bande von Biel, die mutmasslich in die tödliche Auseinandersetzung vom Wochenende involviert war. Die Gang aus Biel war bereit, Einblick in ihre Szene zu geben. Die Mitglieder waren wütend, dass in vielen bisherigen Berichten nur über sie anstatt auch mit ihnen gesprochen wurde. Sie wollen aber anonym bleiben.
Sprechen wollen sie in ihrer Stadt, ihrer Zone, ihrem Quartier. Eine moderne Hochhaussiedlung mitten in der Bieler Innenstadt. Im Innenhof spielen Kinder, die jungen Männer setzen sich auf eine Treppe am Rande des Hofs. Erst sind es fünf, im Verlauf des Gesprächs kommen ganz unscheinbar weitere dazu. Einige hören nur mit, andere bringen sich ebenfalls ein.
Mit dem Wort «Gang» sind sie nicht zufrieden. «Wir sind alles Freunde, eine Familie», sagt Finérail. 40 bis 50 Leute seien sie, die jüngsten 15 Jahre alt, einen Anführer gebe es nicht. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund.
Das einzige, das wir machen, ist uns zu verteidigen.
Ihr Quartier, ihre Freunde sind ihnen so wichtig, dass sie sie verteidigen müssten. Verteidigen insbesondere gegen die Gang aus La Chaux-de-Fonds, mit der sie seit Jahren eine Auseinandersetzung haben. Alleine ihre Generation sei seit drei bis vier Jahren in diesem Streit, sagt der junge Mann.
Das Ausmass sei so schlimm, dass sie mittlerweile bewaffnet seien – mit Macheten, Stichwaffen, Handfeuerwaffen. «Wenn sie mit einer Machete kommen, kann ich nicht mit einem Buttermesser kommen.» Sonst würde er alles abkassieren. «Das einzige, das wir machen, ist uns zu verteidigen», wie sie mehrmals betonen.
Eine solche Pistole möchten die jungen Männer zeigen und führen in eines der Hochhäuser, in einen abgelegenen, versprayten Raum im Untergeschoss. Es dauert eine Weile, bis rund ein Dutzend weitere Mitglieder der Gruppe da sind. Sie stellen sicher, dass niemand Fremdes sieht, was sie aus einer Tasche ziehen. «Solche Schusswaffen werden äusserst selten gebraucht – noch jedenfalls», sagt Finérail. Es gehe nicht darum, anzugeben, aber: «Je brutaler wir sind, desto mehr hat der Feind Angst und hört auf.»
Wenn sie sich ein Ende wünschen, wieso hören sie dann nicht selbst auf? Das gehe nicht, das sei nicht einfach, man stecke zu tief drin, lautet die Antwort. «Seit Blut geflossen ist, ist es nicht einfach, Frieden zu schliessen.»
Präventionsarbeit auf den Strassen
Dies zu hören macht Elisa Rosselli traurig. Sie ist zuständig für die Jugendarbeit auf den Strassen von La Chaux-de-Fonds und Le Locle. Jenen Orten, mit denen Biel im Streit ist. Solche Aussagen hätten für die jungen Männer Folgen für das gesamte Leben. «Leben, die zerstört werden, obwohl sie so viel anderes machen könnten», sagt Rosselli, die mit ihren Mitarbeitenden dort unterwegs ist, wo sich auch die Jugendlichen treffen.
Ihr ist wichtig, zu betonen, dass die ganz grosse Mehrheit der Jugendlichen toll und motiviert sei. Jene, die mit den gewalttätigen Banden in Verbindung geraten, seien oft unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Sie helfe ihnen dabei, Lehrstellen zu finden, Zugang zu Beschäftigungen. «Wir sind hier, um zu versuchen, ihnen andere Perspektiven auf die Welt zu eröffnen», so Rosselli. Andere Beschäftigungen, als sich mit den Banden zu bekämpfen.
Ihnen ihre Möglichkeiten, aber auch die möglichen Konsequenzen ihres Handelns aufzuzeigen, das brauche Geduld, sagt Daniel Favre von der Neuenburger Polizei. Einmal würden sie dies von der Jugendarbeit hören, einmal aus der Schule und einmal von ihm. Favre besucht jede neunte Klasse im Kanton Neuenburg und vermehrt auch Berufsschulen. Dabei tritt er vor die Schülerinnen und Schüler und sagt: «Euer Handeln kann enorme Konsequenzen auf euer zukünftiges Leben haben.»
Er versuche dabei, vor allem die Mitläufer zu erreichen und ihnen klarzumachen, dass ihnen am meisten Probleme drohten. Denn die Bandenführer seien schlau genug, um die Arbeit von den Schwächeren machen zu lassen. Favre gibt den Schülerinnen und Schülern jeweils auch eine Handynummer mit, unter der er für sie erreichbar ist. Viele würden sich bei ihm melden, nach Rat fragen, Angst äussern, die Gruppe zu verlassen und keine Freunde mehr zu haben. Er versuche, ihnen die Angst zu nehmen.
Wo das alles enden wir, wissen wir nicht. Unser Gegner auch nicht.
Im Kanton Neuenburg wird einiges versucht, um die Jugendlichen aus diesen gewalttätigen Banden rauszuhalten – auch aus Rivalitäten wie zwischen La Chaux-de Fonds und Biel. Ob das bei den Jungen ankommt, scheint spätestens seit letzten Wochenende jedoch fraglich.
Der Bieler Finérail jedenfalls sagte kurz vorher: «Wir sagen nicht, dass normal ist, was wir tun. Aber wir sind auf der Strasse und bekämpfen uns.» Wo das alles enden werde, wüssten er – wie auch seine Gegner – nicht.