Zum Inhalt springen

Gewaltprävention im Tessin Gewalt gegen Senioren: «Je abhängiger, desto grösser die Gefahr»

Gewalt gegen alte Menschen ist ein Riesentabu: Der Kanton Tessin hat zur Prävention ein vorbildliches Netz.

Das Sozialzentrum des kleinen Dorfes Morbio Inferiore oberhalb Chiasso ist eine Osteria, die vom Interieur her daher kommt wie ein typisches Zürcher oder Basler Retro-Chic-Kaffee. Eine Chromstahlkaffeemaschine steht neben farbig angemalten Stühlen. Betrieben wird die Osteria, die zeitweise Kinderhort ist, von der Pro Senectute. 

Wenn ich hier bin, geht es mir gut, ich bin ja alleine.
Autor: Seniorin Hanni im Begegnungszentrum

Psychologin Francesca Ravera mischt sich im Auftrag von Pro Senctute regelmässig unter die älteren Osteria-Besucher. «Wenn ich hier bin, geht es mir gut, ich bin ja alleine. Ich versuche viel zu lachen, das reinigt mein Inneres». Die 90-jährige Hanni wohnt in einem der grossen Wohnblocks nahe der Osteria.

Ein Tabuthema

Box aufklappen Box zuklappen

Der 1. Oktober ist der internationale Tag der älteren Menschen – und Pro Senctute Schweiz schlägt Alarm: Die Gewalt gegenüber älteren Menschen steige stark. Gemäss eigenen Recherchen bei Ombudsstellen und kantonalen Gewaltstatistiken habe sich die Zahl der Straftaten im Kontext von Gewalt im Alter in den letzten zehn Jahren verdoppelt, von schweizweit 3600 auf über 7000 Fälle. Die Dunkelziffer sei riesig. Es sei ein Riesentabu. Damit diese Gewalt in einer stark alterndern Gesellschaft nicht weiter zunehme, brauche es viel Präventionsarbeit.

Ihr geht es gut, trotz vieler Schicksalsschläge. Sie musste beispielsweise ihren Sohn begraben. Pychologin Ravera stellt fest: «Es ist deine Fertigkeit einfach Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu pflegen, die macht, dass es dir gut geht.»

Häufig geschieht der Missbrauch, das Abwerten, das Anschreien, das Festhalten, das Den-Anderen-Vernachlässigen, das Ihm-Nicht-Mehr-Zuhören aus der Stresssituation heraus.
Autor: Francesca Ravera Psychologin bei Pro Senectute Tessin

 Mit den alten Menschen über ihren psychischen Zustand reden hier an diesem Ort, der sich für sie wie ein zweites Zuhause anfühlen soll - das ist der Präventionsansatz von Pro Senctute Ticino. Die älteren Menschen sollen ein soziales Netz haben.

Je kleiner das soziale Netz, je isolierter der Mensch, desto grösser die Anfälligkeit für Gewalt-Missbrauch, sagt Ravera. «Je abhängiger eine Person ist von einer anderen, desto grösser ist die Gefahr des Missbrauchs. Häufig geschieht der Missbrauch, das Abwerten, das Anschreien, das Festhalten, das Den-Anderen-Vernachlässigen, das Ihm-Nicht-Mehr-Zuhören nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus der Stresssituation heraus.»

Vorbild Tessin

70 Anzeigen wegen Gewalt habe es bei ihnen dieses Jahr bisher gegeben, sagt Ravera. Die häufigste Art von Missbrauch: psychische Gewalt innerhalb der Familie, unter den Eheleuten. Meist ist der eine Partner sehr krank und der andere mit der Situation heillos überfordert. Auch dieser Missbrauch innerhalb der Familie ist ein Riesentabu.

Pflegemitarbeitende können ebenfalls überfordert sein und Gewalt anwenden. Darum schulen Fachkräfte wie Francesca Ravera auch Spitex-Mitarbeitende und andere Pflegefachleute. Präventionsarbeit sehen sie als A und O, damit es gar nicht erst zur Gewalt im Alter kommt. Kommt es doch dazu, wird versucht, möglichst schnell ein verlässliches Hilfsnetz um die betroffene Person zu weben, damit der alte Mensch möglichst eingebunden und nicht isoliert und damit anfällig für Gewalt ist.

Eine Frau schiebt einen Rollator über mehrere Gleise.
Legende: Treffen in der Osteria: Die Pro Senectute Tessin ist gut organisiert (Symbolbild). Keystone

Beispielhaft sei diese Arbeit von Pro Senctute im Tessin sagt Alexander Widmer, Mitglied Geschäftsleitung Pro Senctute Schweiz. Aus drei Gründen nehme Pro Senectute Tessin schweizweit eine Vorreiterrolle ein. «Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden und Pro Senectute Tessin verfügt über die Beratungsstellen über ein Frühwarnsystem. Und drittens hat Pro Senectute Tessin dank dem Kanton die notwendige finanzielle Unterstützung.»

Auch in der Deutschschweiz bestehe angesichts der steigenden Gewalt gegenüber alten Menschen dringender Handlungsbedarf, betont Widmer.

Rendez-vous vom 01.10.2012, 12:30 Uhr;

Meistgelesene Artikel