Der Gotthardbasistunnel ist ein Weltrekordtunnel und jetzt, wenige Tage vor dessen Eröffnung, greift Paolo Beltraminelli, der Präsident der Tessiner Kantonsregierung, zu den ganz grossen Vokabeln. Von einem Ereignis von epochaler Bedeutung spricht er.
Dank den zwei Haltestellen in Lugano und Bellinzona sei das Tessin nun mehr als ein Transitkorridor zwischen Mailand und Zürich.
In Zukunft werde man im Tessin nicht mehr sagen können, dass das Tessin weit weg sei von den Zentren der Deutschschweiz. Mit dem Tunnel rücke das Tessin nahe heran an die übrige Schweiz.
Skeptischere Stimmen
Skeptischer ist Remigio Ratti. Ein Tunnel oder eine Eisenbahnverbindung bewirkten nicht automatisch Entwicklung, sagt der Ökonom, der in den neunziger Jahren Mitglied der Studiengruppe Galfetti war. Politiker, Architektinnen, Wirtschaftsführer, und Historikerinnen dachten damals nach über eine Alptransit-Vision für das Tessin. Und lernten aus der Geschichte.
Die Bahnhöfe der ersten Gotthardbahn seien nicht dort entstanden, wo Dörfer waren, sondern auf freiem Feld, sagt Ratti. Doch rund um die Bahnhöfe siedelten Menschen und Betriebe. Der mausarme Kanton Tessin investierte damals in die Ceneribahn und in den Damm von Melide. Nur so erhielt das Sottoceneri Anschluss an den Eisenbahn-Fortschritt – durch politische Initiative. Diese fehle heute, kritisiert Ratti. Heute warten die Tessiner Politik und die Wirtschaft lieber ab, was geschieht.
Mit dem Ceneri-Basistunnel wird die Bahnfahrt von Bellinzona nach Lugano nun 15 Minuten dauern. Zwei Schnellzughalte innert kürzester Zeit. Die Gruppe Galfetti schlug stattdessen einen neuen Bahnhof Stazione Ticino vor in der Magadinoebene.
Die handfesten Interessen der SBB, der Politik und nicht zuletzt des Stadtpräsidenten von Lugano hätten dafür gesorgt, dass die Idee unterging. Aus dem Blickfeld geriet damit die Vision eines ganzen Verbunds von Tessiner Städten, die dank Alptransit so nahe zusammenrücken wie noch nie.
Trotzdem: Die verkürzten Fahrzeiten im Gotthard bringen Chancen für das Tessin, sagt der Raumplaner Fabio Giacomazzi. Er war bis Ende letzten Jahres Präsident des Rats für Raumordnung im Bundesamt für Raumentwicklung. Giacomazzi spricht von neuen wirtschaftlichen Impulsen und den entsprechenden Arbeitsplätzen, er spricht von Pendlern, die im Tessin wohnten und im Raum Zürich, Zug oder Luzern arbeiteten. Und von mehr Tourismus, «sowohl Tages- wie auch Feriengästen.»
Eine Entwicklung ähnlich der im Wallis
Giacomazzi vergleicht die künftige Entwicklung im Tessin mit jener, die der Lötschbergbasistunnel im Wallis bewirkt hat. Wie im Oberwallis und Visp werden die drastisch verkürzten Bahn-Fahrzeiten die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen Städten und Regionen verringern. Die Verwaltungsstadt Bellinzona, die Tourismusstadt Locarno und das Wirtschaftszentrum Lugano werden näher aneinander wachsen.
Wie genau, sei noch zu gestalten, sagt Giacomazzi. «Ob das eine bessere funktionale Organisation der ‹Città Ticino› mit sich bringen wird – zum Beispiel mit einer Reduktion des Automobilverkehrs – ist noch offen. Ebenso ist offen, ob es eine bessere räumliche Gestaltung der ziemlich chaotischen Siedlungsgefüge geben wird.»
Der Basistunnel wird die Tessiner Regionen also räumlich verändern. Doch nicht nur diese. Er ist Bestandteil der transkontinentalen Verkehrsachse zwischen Genua und Rotterdam, verbindet Zentren wie Zürich und Mailand.
Das ist die Perspektive von Professor Lanfranco Senn an der Wirtschafts-Universität Bocconi in Mailand. Museen in Mailand und Zürich könnten an einem einzigen Tag besucht werden, Dozenten der Universitäten oder Wirtschaftsleute können zwischen den Städten pendeln, sagt Senn. Er rechnet mit einem deutlichen Handelswachstum.
«Ohne den Tunnel würden Chancen gar nicht erst entstehen»
Der Güterverkehr am Gotthard steige bis ins Jahr 2030 um 55 Prozent. Die volkswirtschaftlichen Vorteile werden allein in Italien 1,2 Milliarden Euro pro Jahr betragen, rechnet der Ökonom vor. Aber das sei nur die kurzfristige Perspektive.
Eine Infrastruktur dieser Dimension entfalte ihre Wirkung über 100 Jahre lang, sagt Senn. Bis dahin würden sich politische Verhältnisse ändern und neue Technologien einkehren. Und da wagt selbst der Zahlenmensch Senn keine Prognose mehr. «Niemand kann voraussagen, welche Probleme der Tunnel in einer fernen Zukunft lösen wird. Aber ohne ihn würden Chancen erst gar nicht entstehen.» Einzig das sei gewiss. In Mailand, in Zürich und im Tessin.