Noch nie gab es so viele Staustunden am Gotthard: Im Juli dieses Jahres verzeichnete die Urner Kantonspolizei rund 350 Staustunden auf der Gotthardautobahn, wie der Tages-Anzeiger berichtet. Das ist ein neuer Rekord. Zum Vergleich: Vor der Pandemie im Juli 2019 registrierte die Polizei 265 Stunden Stau. Und auch national sind die Staustunden auf Nationalstrassen bereits wieder stark am Zunehmen: 2021 sind sie gegenüber 2020 um 44 Prozent angestiegen und lagen nur noch 7 Prozent unter dem Wert von 2019. Und das, obwohl auch 2021 wegen der Pandemie teilweise noch Kontaktbeschränkungen galten.
So funktioniert das Stauregime am Gotthard: Weil der Gotthardtunnel nur eine Spur in jede Richtung aufweist, stauen sich die Fahrzeuge vor den beiden Portalen regelmässig auf vielen Kilometern. Damit die Autofahrerinnen und -fahrer den Stau nicht einfach auf der Kantonsstrasse umfahren und kurz vor dem Tunnel in Göschenen wieder auf die Autobahn einbiegen, schliesst die Urner Kantonspolizei die Einfahrt Göschenen jeweils ab einer Staulänge von 3 Kilometern. Die Ausfahrten Erstfeld und Amsteg werden zudem «dosiert», es werden also nur so viele Fahrzeuge von der Autobahn auf die Kantonsstrasse gelassen, dass es auf dieser keinen Stau gibt.
Als Versuch war in den letzten zwei Wochen bei Stau zudem auch die Einfahrt in Wassen in Richtung Süden gesperrt. Wer also die Autobahn bereits früher verlassen hatte, musste den Weg über den Gotthardpass antreten und konnte auch in Wassen nicht mehr auf die Autobahn zurück. Dieser Versuch wurde jetzt wegen einer Baustelle vorzeitig abgebrochen, die Auswertung steht noch aus.
Das bedeutet der Ausweichverkehr für die Bewohner des Urner Reusstals: Der Ausweichverkehr sorgt für zusätzlichen Lärm und Gestank in den Dörfern Erstfeld, Amsteg und Wassen. Zudem können die Bewohner der Dörfer wegen des ewigen Staus ihre Wohnungen und Häuser nur erschwert erreichen. Deshalb regt sich jetzt Widerstand in der Bevölkerung: In Wassen haben vor zwei Wochen rund 25 Personen immer wieder die Strasse auf den Fussgängerstreifen überquert, um so den Verkehr zu verlangsamen. Und jetzt will eine Interessengemeinschaft auch Unterschriften für eine Petition sammeln. So soll Druck auf die Behörden gemacht werden, etwas gegen den Verkehr zu unternehmen.
Das fordert die Politik: Die Urner Mitte-Ständerätin Heidi Zgraggen hat im Ständerat einen Vorstoss eingereicht. Sie will vom zuständigen Amt Astra wissen, wie es die für die Bevölkerung «unhaltbaren Zustände» im Urner Reusstal ändern wolle. Und sie bringt Massnahmen wie etwa die zeitweilige Sperrung der Kantonsstrasse, ein Fahrverbot für gewisse Fahrzeugtypen oder zum Beispiel das Freigeben des Pannenstreifens für Anwohner ins Spiel.
Das sagt der Experte: Auf Kantonsstrassen sei die Bevorzugung einer spezifischen Gruppe nicht möglich. Das sagt Verkehrsexperte Ruedi Häfliger vom Verkehrsplanungsbüro Metron. «Öffentliche Strassen sind gemäss Bundesgesetz grundsätzlich für alle zugänglich, man kann nur Verkehrsregeln machen, die für alle gelten. Ausnahmen sind nur für Quartierstrassen möglich, etwa für den Wohnschutz.» Möglich wären aber zum Beispiel Lastwagenfahrverbote oder Geschwindigkeitsreduktionen. Um gewisse Bevölkerungsgruppen vom Verkehr auszuschliessen, braucht es gemäss Häfliger eine Gesetzesänderung.