Das Wichtigste in Kürze:
- Im intensiv genutzten Mittelland finden sich im Grundwasser viele Pestizid-Rückstände.
- Experten halten Pestizide für eine der grössten aktuellen Bedrohungen unseres Trinkwassers.
- «Kassensturz» liegen die vertraulichen Risiko-Schätzungen der Zulassungsbehörden vor. Diese zeigen: Das Bundesamt für Landwirtschaft geht bei der Zulassung von Pestiziden wissentlich hohe Risiken ein.
- Experten des EAWAG sind über diese Zulassungspraxis erstaunt. Das Bundesamt für Landwirtschaft verteidigt die Zulassung.
Der Gemüse- oder Obstanbau kommt in der Schweiz kaum ohne Pestizid-Einsatz aus. Auch Obstbauer Roland Müller aus dem Kanton Thurgau setzt auf seiner Apfelkultur bei Bedarf Chemie ein. Er setzt die Mittel ganz korrekt ein, so wie es die Vorschriften vorsehen.
Warum sich im Eschelisbach, gleich neben seinen Plantagen, trotzdem mehr als 80 Pestizide nachweisen liessen, kann er sich nicht erklären: «Wir bringen die Pestizide nach den Regeln aus, die uns vorgegeben sind. Wir halten die nötigen Abstände ein. Wir halten die Mittelwahl ein. Wie genau die Stoffe in den Bach kommen, ist mir ein Rätsel.»
Auch wenn nicht alle Bauern so korrekt wie Roland Müller spritzen, erstaunt es dennoch, dass Gewässer derart belastet sind.
Viele Bäche sind wahre Pestizid-Cocktails
Untersuchungen des EAWAG (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz) haben gezeigt, dass Bäche in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten wahre Giftcocktails enthalten. Liegt es also an den Vorschriften, wie Pestizide ausgebracht werden? Reichen sie nicht aus, um die Gewässer zu schützen?
Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ist die Zulassungsbehörde für Pestizide in der Landwirtschaft. Die Behörde berechnet für jedes Pestizid das Giftrisiko. Das heisst, in welcher Konzentration das Pestizid in Gewässern zu erwarten ist. Das ist ein rein theoretischer Wert. «Kassensturz» liegen die Risiko-Berechnungen von zwölf Stoffen vor, welche die EAWAG in zu hohen Konzentrationen in verschiedenen Gewässern gefunden hat.
BLW bewilligt zu risikoreiche Pestizide
Diese Werte, welche das BLW erstmals offengelegt hat, sind brisant. Denn sie liegen weit über den maximal zulässigen Werten. Damit gefährden sie Wasserorganismen.
Zwei Beispiele: Für das Insektizid Chlorpyrifos-methyl beträgt der maximal zulässige Wert 0,05 Mikrogramm pro Liter. Das berechnete Risiko des BLW liegt aber bei 0,1 Mikrogramm pro Liter. Doppelt so hoch wie zulässig.
Ein krasses Missverhältnis zwischen Grenzwert und berechnetem Risiko zeigt das Mittel Diuron. Zulässig wären nur 1,83 Mikrogramm pro Liter. Die vorhergesagte Konzentration beträgt jedoch 37,8 Mikrogramm pro Liter. Das Risiko, die Wasserorganismen zu schädigen, ist riesig.
EAWAG über Zulassungspraxis erstaunt
«Kassensturz» legt die Zahlen den Wasserexperten der EAWAG vor. Christian Stamm und sein Team haben den Vergleich studiert und kommen zum Schluss: «Wenn man diese beiden Werte vergleicht, ist das ein klarer Hinweis, dass diese Substanzen möglicherweise mit Risiko für die Gewässer zugelassen worden sind.» Diese Zulassungspraxis der Behörde erstaunt Stamm: «Ich ging bisher davon aus, dass Mittel nicht zugelassen werden, wenn die vorhergesagten Konzentrationen zu hoch sind.»
Die Zulassungsbehörde bewilligt Pestizide mit einem hohen Risiko für Gewässerorganismen. Die Analyse der Daten zeigt, dass diese Pestizide dann auch tatsächlich Gewässerorganismen gefährden. Bei genauer Betrachtung der Daten fällt Stamm auf: «Die Substanzen, bei denen der berechnete Wert höher ist als der zulässige, sind genau jene, die man in den Gewässern in zu hoher Konzentration findet.»
BLW verteidigt Zulassungspraxis
Warum lässt das BLW Pestizide zu, bei denen es aufgrund der Risiko-Berechnung weiss, dass sie den Grenzwert überschreiten werden? Eva Reinhard, stellvertretende Direktorin des BLW, verteidigt die Zulassungspraxis. «Wir wissen nicht, dass diese Stoffe den Grenzwert überschreiten werden. Das ist auch nicht immer der Fall. Wir wissen, dass das Potenzial dazu relativ hoch ist. Und dass wir hier in einem Risiko-Bereich sind, wo man zwei Mal hinschauen muss.»
Abwägung zwischen Gewässerschutz und Nutzen für Landwirtschaft
Es gebe auch Stoffe, die tatsächlich nicht zugelassen würden, so Reinhard. Bei anderen wäge man ab. «Da schauen wir, welche Konsequenzen es hätte, wenn wir den Stoff der Landwirtschaft nicht zur Verfügung stellen würden. Und da geht es natürlich vor allem um Ertragssicherheit. Wir wollen unsere eigenen Obst- und Gemüsekulturen, und das ist sehr schwierig ohne Pflanzenschutzmittel.»
Mit anderen Worten: Die Behörde macht eine Abwägung zwischen Gewässerschutz und Landwirtschaft. Das BLW erkennt aber auch Defizite, so soll das Zulassungsverfahren für Pestizide transparenter werden. Falls man feststelle, dass ein Stoff nicht tragbar sei, werde das BLW wieder aktiv. So würden zurzeit die Auflagen im Bereich Abschwemmung – die Auswaschung von Pestiziden durch Regen in Bäche – erhöht.
Bei drei der von «Kassensturz» kritisierten Stoffen wird das BLW bis Mitte 2018 die Zulassung wieder entziehen, bestätigt Reinhard. «Diese werden dann nicht mehr erhältlich sein».