Das Bundesgericht hat im letzten Frühjahr entschieden, dass ausserhalb der Bauzonen andere Regeln herrschen als innerhalb. Konkret: Auch vor über 30 Jahren illegal erstellte Bauten müssen abgerissen werden. Wie viele Rustici und Maiensässe genau in den Gebirgskantonen Tessin, Graubünden, Bern und Wallis von diesem Urteilsspruch betroffen sind, weiss niemand.
Die Gebirgskantone müssten jetzt ihre Praxis ändern, heisst es seitens des Bundes. Der Blick in die betroffenen Kantone zeigt aber, dieses Urteil wird vorerst gar nichts ändern. Zu langwierig ist die Geschichte der Rustici, zu stark ist die Gemeindeautonomie.
Gemeinden tun sich schwer mit illegalen Bauten
Im Tessin gibt es an die 2000 Rustici, die juristisch anfechtbar ausserhalb der Bauzonen errichtet wurden, schätzt Baudirektor Claudio Zali. Wie gross der Anteil der vor über 30 Jahren illegal errichteten Bauten ist, kann er nicht beziffern. Klar aber ist: Auch bei den jüngeren, also den vor 20, 10 oder fünf Jahren errichteten Bauten fuhren bisher erst gegen ein paar Dutzend Bagger auf, um sie abzureissen.
Zuständig für den Abbruch seien die Gemeinden, so sei die Rechtslage, sagt der ehemalige Richter Zali. Die respektiere der Kanton. Die Gemeinden ihrerseits gehen also nicht gegen die illegalen Bauten vor. Die Nähe der Gemeindemitarbeitenden zu ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern mache den Entscheid, die Bagger auffahren zu lassen, für sie sehr schwierig, sagt ein ehemaliger langjährige Tessiner Gemeindepräsident gegenüber Radio SRF.
Ich muss jetzt ausbaden, dass andere ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben.
Eine absurde Situation, die für ihn als Betroffenen ein veritabler Albtraum sei, sagt Rustico-Besitzer Silvano Ordia. Der Pensionär sagt, er habe 250’000 Franken in den Umbau eines Stalles zum sehr gepflegten Steinhaus gesteckt und sich dabei stets an die Vorgaben der Behörden gehalten. Vor sieben Jahren kam dann plötzlich das Schreiben, dass sein Rustico unrechtmässig erstellt worden sei.
«Ich muss jetzt ausbaden, dass andere ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Die Gemeinde hat meine Umbaupläne gutgeheissen, obwohl die offenbar illegal waren.» Selbst die Bagger bezahlen, damit die das eigene Häuschen abreissen, könne er nicht, sagt Ordia.
Bitter ist auch der Ton von Rustico-Besitzer Marco Lepori, sein Abreissgesuch ist zehn Jahre alt: «Bern will, dass das Tessin zu Pompeji wird, dass das Tessin in Trümmern liegt.» Die Jahre andauernde Rustico-Debatte sorgt für Misstöne zwischen Bern und dem Tessin. Ruinen gibt es aber kaum, weil die Tessiner Gemeinden nicht die Bagger auffahren lassen.
Suche nach Kompromiss statt Bagger
Was bedeutet in dieser Ausgangslage der neuste Urteilsspruch aus Lausanne, der eben besagt, dass auch Rusticos, die vor 30 Jahren illegal gebaut wurden abgerissen werden müssen? Dazu Staatsrat Zali: «Natürlich respektiere ich den Urteilsspruch aus Lausanne, ändern wird der in der Praxis aber wenig.»
Die Leute verstehen nicht, dass Mord verjähren kann, der Umbau ihres Rusticos nicht.
«Die Leute verstehen nicht, dass Mord verjähren kann, der Umbau ihres Rusticos nicht, es folgen jahrelange Gerichtsverfahren, es ist eine unendliche Geschichte.» Darum, sagt Zali, müsse ein politischer Weg gefunden werden, um die Rustico-Frage zu lösen.
Die Gespräche zwischen dem Bund und den vom neusten Urteil aus Lausanne betroffenen Gebirgskantonen werden also fortgeführt. Das Urteil selbst ist derweil nichts mehr als toter Buchstabe. So schätzt beispielsweise auch Regierungsstatthalter Martin Künzi aus Interlaken die konkrete praktische Auswirkung des Bundesgerichtsurteils als gering ein.