Eines ist klar, Tauchen im St. Anna-Loch ist für Laien gefährlich. «Ein Tauchgang hier wird nicht umsonst als Extremtauchgang bezeichnet. Die Strömung lässt einem mit dem Gefühl zurück, in einer Waschmaschine zu tauchen, die Sicht ist selten gut, man kann sich überall verfangen, es lauern scharfe Kanten und es ist immer dunkel.»
Diese Erfahrungen hat Petar Ljubicic gemacht. Unzählige Tauchgänge hat er im Rhein bei der alten Rheinbrücke schon absolviert. Er taucht mit einem Team unter dem Namen «xPloris» in das über 30 Meter tiefe Loch und will es erforschen und dokumentieren.
Das St. Anna-Loch liegt zwischen einer kleinen Insel und dem deutschen Ufer, unterhalb der Rheinbrücke bei Rheinfelden. Geologisch handelt es sich um eine tektonische Plattengrenze am Rande der Oberrheinischen Tiefebene.
Bereits 700 Meter weiter oben hat das Flussbett tiefe Furchen. Diese werden flussabwärts immer grösser, bis zum Graben mit der Steilwand, dem St. Anna-Loch.
Auf dem mächtigen Felsblock beim St. Anna-Loch standen früher die Burg der Herren von Rheinfelden und die St. Anna-Kapelle. Anna galt als Patronin der Schiffer. Direkt neben dem Felsblock stürzt das Flussbett in einen 30 Meter tiefen Kessel ab. «Ein Strudel unter der glatten und unauffälligen Wasseroberfläche entwickelt mörderische Energie und hat schon manchen Menschen in den Tod gerissen», beschreibt Rheinfelden Tourismus die Situation.
Goldene Glocke versenkt?
Seit seiner Kindheit ist der 33-jährige Petar Ljubicic vom St. Anna-Loch fasziniert, auch wegen der vielen Sagen. In der Tiefe soll eine goldene Glocke liegen, die sich früher in der St. Anna-Kapelle befand. «Nach einer Version haben die Rheinfelder Bürger selbst in einem Krieg die Glocke dort versenkt, damit sie nicht geraubt und zu Munition umgeschmolzen würde», schreibt Rheinfelden Tourismus.
Eine andere Geschichte besagt, dass die Hunnen bei einem Raubzug die Glocke erbeuteten, dann aber von den Stadtbewohnern über die Rheinbrücke in die Flucht geschlagen wurden. Dabei sei ihnen die Glocke zu schwer geworden, und sie hätten sie in den Rhein geworfen.
Normalerweise ist der Rhein drei bis vier Meter tief. In 30 Metern bei starker Strömung zu tauchen will geübt sein. Im Herbst 2021 ist Petar Ljubicic erstmals ins dunkle Loch abgetaucht. Mit einem mulmigen Gefühl, aber gut vorbereitet, wie er sagt.
Unterdessen hat er, der Weiterbildungen als Solo- und Höhlentaucher absolviert hat, unzählige Tauchgänge im Loch gemacht, zusammen mit sechs Mitstreiterinnen und Mitstreitern.
Hier zu tauchen ist wie Bergsteigen unter Wasser.
Die Sicht unter Wasser ist schlecht, mit klassischem Tauchen habe das Ganze nichts zu tun, sagt Petar Ljubicic: «Es ist wie Unterwasser-Bergsteigen.» Die Strömung ist so stark, dass die Taucher Seile benutzen, um sich von Stein zu Stein zu ziehen.
«Es ist sehr eindrücklich, was man unten sieht, aber auch sehr anspruchsvoll. Mit der Kälte und Strömung, da ist man nach einem Tauchgang kaputt», sagt Ljubicic, als er aus dem trüben Wasser auftaucht.
Genaues 3D-Modell
Das Ziel der Tauchenden: Sie wollen das St. Anna-Loch ganz vermessen und ein 3D-Modell erstellen. Sie finanzieren ihr Projekt via Crowdfunding und gehen von Kosten zwischen 12'000 und 18'000 Franken aus. Bisher finanzieren die teilnehmenden Taucher das Projekt selbst. Das limitiere aber die Möglichkeiten, sagen sie.
Unser grösster Feind für Tauchgänge ist die Sonne.
Es existiert ein erstes 3D-Modell aus den 40er-Jahren, heute seien die Geräte aber viel genauer. Petar Ljubicic und sein Team tauchen im Winter, wegen der Lichtverhältnisse. «Unser grösster Feind für Tauchgänge ist die Sonne. Sobald sie im Sommer aufs Wasser strahlt, ist alles trüb und wir können keine Aufnahmen machen.»
Wertvoller Fund?
Erst beim etwa fünzigsten Tauchgang entdeckte Ljubicic ein Objekt, das er immer übersehen hatte. Etwa die goldene Glocke? Nicht ganz: «Auf dem Rückweg haben wir einen roten Klotz gefunden, überwachsen mit Mikroorganismen. Darauf sind spezielle Zeichen eingeritzt.»
Auch Reste von Mauern der alten Burg, Abfall, Fahrräder, aber auch Tiere, Schwarzmeergrundeln und Welse, haben sie im Loch schon entdeckt.
Einige Fundgegenstände könnten wertvoll sein, deshalb arbeitet das Team auch mit der Kantonsarchäologie Aargau zusammen. Archäologische Grabungen seien aber nicht das Ziel. «Wenn etwas Schweres da hineingefallen ist, ist es weit unten im Boden vergraben», weiss der 33-Jährige. Aktiv suchen wolle er nach der Glocke nicht, sondern das St. Anna-Loch ganz genau vermessen – und die Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen.
Flüsse besser erforschen
Thomas Doppler, Aargauer Kantonsarchäologe, schätzt die Forschung der Taucherinnen und Taucher: «Wir kennen vor allem die Dinge in den Seen. Aber was in den Flüssen ist, wissen wir kaum. Das ist ein weisser Fleck auf der Fundstellenkarte», sagt er.
Die aktuelle Forschung sei ein Pilotprojekt, das auch Technik und Abläufe testen könne. «Es gibt erste Hinweise auf Reste von Mauern, wohl von einer mittelalterlichen Burg.»
Was in den Flüssen ist, wissen wir kaum.
Von den Tauchgängen profitiert nicht nur die Wissenschaft, auch die Bevölkerung soll sehen, was sich im sagenumwobenen St. Anna-Loch verbirgt. Das Fricktaler Museum in Rheinfelden will die bisher eher kleine Ausstellung über das Loch vergrössern.
3D-Aufnahmen werden das St. Anna-Loch erfahrbar machen.
Kathrin Schöb Rohner, Leiterin des Fricktaler Museums, freut sich darauf. «Wenn man heute auf der Rheinbrücke steht, dann sieht man vor allem viel Wasser und denkt, hier geht’s also 30 Meter hinunter. Nur kann man sich das gar nicht vorstellen. 3D-Aufnahmen machen das erfahrbar.»
Bis es so weit ist, tauchen Petar Ljubicic und seine Teamkolleginnen und -kollegen regelmässig im Rhein bei Rheinfelden ab, fertig sind sie nämlich noch lange nicht. Und wer weiss, welche Geheimnisse aus dem St. Anna-Loch künftig ans Licht kommen werden. Überraschungen gebe es immer – sagt Ljubicic.