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Jünger und gewaltbereiter Massnahmenzentren kämpfen mit Verrohung bei jungen Straftätern

Wegen zunehmender Gewaltbereitschaft rüsten verschiedene Institutionen bei der Sicherheit auf. Der offene Vollzug wird auf die Probe gestellt.

Heute führt Luca Eichenberger eine Bar in Basel. Er hat sein Leben im Griff. Doch in seiner Jugend hatte er die Kontrolle über sein Leben verloren: falsche Kollegen, Drogen, schnelle Autos, Diebstahl, Einbrüche. «Es waren 196 Anklagepunkte in vier Monaten», sagt er.

Aber: Der heute 33-Jährige hat seine Lektion gelernt. Vier Jahre lang war er im Massnahmenzentrum (MZ) Arxhof im Kanton Baselland. Das war vor rund zehn Jahren.

Eichenberger möchte auch etwas zurückgeben, engagiert sich bei Präventionsprojekten. Und er ist auch auf den Arxhof zurückgekehrt: als Aushilfe im Team der Sozialpädagogen.

Starke Veränderungen in den letzten Jahren

Dabei konnte er die Veränderungen bei den Eingewiesenen in der Justiz-Institution beobachten. Und diese seien gravierend: «In meinen Worten würde ich sagen, die psychischen Störungen haben zugenommen. Zu meiner Zeit hatten wir zwei, vielleicht drei, die als ‹gefährliche Täter› eingestuft worden sind. Heute ist es eher die Mehrheit.»

Arxhof reagiert mit Übergangspavillon und Sicherheitsdienst

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Blick auf die Anlage des Massnahmenzentrums Arxhof.
Legende: Der Arxhof liegt idyllisch auf einem Jurahügel, weit weg von den Gemeinden Bubendorf und Niederdorf im Kanton Baselland. Keystone/Patrick Straub

Das Markenzeichen des Massnahmenvollzugszentrums Arxhof war bislang der offene Strafvollzug: Therapie statt Gefängnis. Auf die neuen Herausforderungen reagiert die Institution mit verschiedenen Anpassungen.

Der Arxhof, der weitab von den nächsten Dörfern steht, bietet Platz für 46 junge Straftäter im Alter zwischen 17 und 25 Jahren. Alle sollen hier eine Lehre absolvieren und auf ein geregeltes Leben vorbereitet werden.

Übergangspavillon mit intensiver Betreuung

Bereits 2019 eröffnete der Arxhof neben der offenen auch eine geschlossene Abteilung. Ein neues Angebot soll nun den Eingewiesenen den Übertritt in den offenen Bereich erleichtern. Der neu geschaffene «Übergangspavillon» bietet den jungen Männern eine engmaschigere Betreuung.

Weiter hat die Institution einen 24-Stunden-Sicherheitsdienst aufgebaut. Rund um die Uhr sorgen zwei Personen für Ordnung. Dafür hat der Arxhof das Sicherheitsdispositiv um sieben Vollzeitstellen aufgestockt.

Diese Veränderungen stellt auch der Arxhof-Direktor, Francesco Castelli, fest: «Seit etwa fünf Jahren beobachten wir eine starke Veränderung im Profil der Eingewiesenen. Sie sind psychisch belasteter, kognitiv eingeschränkter und jünger. Weiter haben wir auch eine Gruppe mit sehr geringen Deutschkenntnissen.» Die Probleme mit Gewaltfällen hätten zugenommen.

Ich glaube, man kann von einem Paradigmenwechsel reden.
Autor: Francesco Castelli Direktor Arxhof

«Einschneidend war ein Ereignis vor rund drei Jahren: Ein Gewaltübergriff gegen einen Mitarbeiter im Nachtdienst.» Dieser Angriff sei Auslöser für einschneidende Veränderungen gewesen. «Uns wurde klar, wir brauchen einen Sicherheitsdienst rund um die Uhr.»

Für den Arxhof, dessen Markenzeichen eigentlich der offene Vollzug ist, war das eine richtungsweisende Veränderung: «Ich glaube, man kann von einem Paradigmenwechsel reden», sagt Castelli.

Das sagt Gerichtspsychiater Frank Urbaniok zur Verrohung

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Gerichtspsychiater Frank Urbaniok gibt ein Interview.
Legende: Die erhöhte Gewaltbereitschaft sei ein Abbild gesellschaftlicher Entwicklungen, sagt Gerichtspsychiater Frank Urbaniok. SRF

Der Gerichtspsychiater Frank Urbaniok sagt, die erhöhte Gewaltbereitschaft bei den Eingewiesenen sei ein Abbild der Gesellschaft: «Wir sehen, dass Hemmschwellen insgesamt sinken. Wir sehen, dass zum Beispiel auch medizinisches Personal angegriffen wird. Das sind Dinge, die man sich vor 15 Jahren kaum vorstellen konnte.»

Vielfältige Gründe

Die Erklärungen dafür seien vielschichtig: Leistungsdruck, Covid, Social Media, psychische Belastungen, sowie sozio-ökonomischer Status. Weiter komme auch problematische Migration hinzu: «Bei bestimmten Herkunftsländern sorgen kulturspezifische Prägungen dafür, dass es ein anderes Verhältnis zu Gewalt gibt, dass es ein anderes Rollenverständnis zum Verhältnis von Frauen und Männern gibt», sagt Frank Urbaniok, der von 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich war.

Grundsätzlich funktioniert Präventionsarbeit

Es gibt aber auch eine positive Nachricht: Frühe Präventionsarbeit, zum Beispiel an Schulen, funktioniere besser. Weniger Jugendliche geraten auf die schiefe Bahn. Die Folge: In den Massnahmenzentren landen vor allem noch die Extremfälle. Allerdings sei damit die Voraussetzung für einen guten Vollzug der therapeutischen Massnahmen infrage gestellt, sagt Urbaniok. «Ein grundsätzlicher Konsens auf einen Gewaltverzicht ist nicht gegeben. Das sind neue Probleme.»

Die Eingewiesenen dürfen nur anonym Auskunft geben. Einer der Älteren sagt, sogar ihm seien die Jungen zu verroht: «Sie haben null Ziele im Leben. Das macht sie unberechenbar und wild.»

Seit dreieinhalb Jahren ist er in der Institution und hat damit den «Ältesten-Status». Er sollte die Jüngeren unter seine Fittiche nehmen und bei Streitigkeiten vermitteln. Das sei aber zunehmend schwierig. Die Gruppendynamik sei aus dem Gleichgewicht geraten.

Andere Institutionen stehen vor ähnlichen Herausforderungen

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Stachekdraht um eine Eiesnstange
Legende: Investitionen in mehr Sicherheit ist eine der Antworten auf die Herausforderung. SRF

Mehr Angriffe gegen das Personal verzeichnet zum Beispiel auch das MZ Uitikon im Kanton Zürich. In einem Regierungsbericht heisst es: «Die betroffenen Mitarbeitenden wurden durch die Vorfälle psychisch und physisch schwer traumatisiert, bis hin zur bleibenden Arbeitsunfähigkeit.» Auch Uitikon hat beim Sicherheitspersonal aufgerüstet.

Mit zunehmend schwierigeren Fällen ist auch das MZ Kalchrain im Kanton Thurgau konfrontiert. Die Leitung will rund 20 Millionen Franken in die Gebäude investieren; unter anderem auch in einen Ausbau der Sicherheitsmassnahmen.

Zurück in die Bar von Luca Eichenberger. Ob er auch unter den heutigen Umständen auf dem Arxhof die Kurve in ein normales Leben gefunden hätte? Nach etwas zögern antwortet er: «Ich glaube eher nicht. Hart ausgedrückt: Ich bin lieber auf dem Arxhof gewesen, so wie es damals war, als unter den heutigen Umständen.»

Dank der verschiedenen Massnahmen fühlen sich unsere Mitarbeitenden wieder sicher.
Autor: Francesco Castelli Direktor Arxhof

Etwas optimistischer blickt Arxhof-Direktor Francesco Castelli auf die Situation: «Dank der verschiedenen Maßnahmen fühlen sich unsere Mitarbeitenden wieder sicher.» Das habe zu einer Entspannung geführt.

Das sei eine Bedingung, um überhaupt mit den Eingewiesenen arbeiten zu können. «Ich glaube, wir sind wieder stabiler unterwegs als noch vor drei, vier Jahren». Der therapeutische Ansatz sei weiterhin möglich, sagt Castelli. Mit der Aufrüstung bei der Sicherheit wird aber das Konzept des offenen Vollzugs auf die Probe gestellt.

Regionaljournal Basel, 06.01.2024; 06.32 Uhr

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