Neue Erkentnisse in der Bündner Justizaffäre: 2018 entschied das Bündner Kantonsgericht einen Erbstreit. Doch von diesem Urteil vom 15. Mai gibt es zwei Versionen. Dies zeigen gemeinsame Recherchen von SRF und dem Digitalmagazin «Republik»:
- Die erste Fassung, die nie verschickt wurde, spricht Patrick Schmit eine halbe Million Franken zu. Schmit ist einer der Söhne des Verstorbenen und hatte erfolgreich geklagt.
- Die zweite Version aber kommt zum Schluss, dass das Geld wegen einer Abtretung dem früheren Anwalt von Patrick Schmit ausbezahlt werden soll. Und weil der inzwischen verstorben ist, solle das Geld nun der Erbin des Anwalts zustehen.
Die Dokumente zeigen auch: Gerichtspräsident Norbert Brunner gibt gegenüber seinen Kollegen zu, dass er persönlich diese Änderung des Urteils vom 15. Mai 2018 anordnete, ohne die anderen Richter zu informieren. «Unbestritten ist, dass die Formulierung des Dispositivs im Sinne einer Anweisung an das Regionalgericht Maloja auf Anordnung von mir angepasst wurde», so Brunner.
Der Präsident dementiert
Inzwischen will Norbert Brunner davon nichts mehr wissen. Konfrontiert mit den Dokumenten antwortet er schriftlich: «Es ist völlig klar, dass ein einmal von der Kammer verabschiedetes Urteilsdispositiv von einem einzelnen Richter nicht abgeändert werden darf.» Das sei auch nicht passiert: «Die Kammer erteilte nach der Beratung der Hauptpunkte des Verfahrens dem Vorsitzenden und dem Aktuar den Auftrag, das Urteil zu bereinigen und das Urteilsdispositiv zu formulieren.»
Brunners Handeln zieht nun Konsequenzen nach sich: Bei der Staatsanwaltschaft sind inzwischen zwei Strafanzeigen eingegangen – durch einen anderen Richter wegen Urkundenfälschung und durch den aktuellen Anwalt des Geschädigten Patrick Schmit wegen Urkundenfälschung. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Experten sind sich einig
Bei Fachleuten stossen die Äusserungen von Norbert Brunner auf Unverständnis. Der Basler Verfassungsrechtler Markus Schefer hat die Akten studiert. Er stellt klar: «Was hier gemacht wurde, das ist nicht Urteilsausfertigung, sondern in dem Fall hat das dazu geführt, dass man das Urteilsdispositiv abgeändert hat und das darf man ganz sicher nicht.» Zwei weitere Verfassungsrechtler und zwei Richter aus anderen Kantonen kommen zum selben Schluss.
Kein Einzelfall
Der Erbstreitsfall scheint allerdings kein Einzelfall. Gerichtspräsident Norbert Brunner bestätigt gegenüber SRF, dass er in hunderten von Fällen tat, was er als «Bereinigung von Urteilen im Auftrag der Kammer» bezeichnet.
Experte Markus Schefer sagt dazu: «Ich denke, es wäre am Gesamtgericht, sich eingehend darüber zu unterhalten, wo die Grenze zwischen zulässiger Urteilsausfertigung und unzulässiger Abänderung liegt.» Eine Änderung in dem Mass wie sie jetzt sichtbar wurde, sei «ganz klar nicht erlaubt.»
Sehr kritisch reagiert auch der aktuelle Anwalt des Geschädigten Schmit. Gabriel Nigon bezeichnet das Vorgehen als «Kabinettsjustiz». Was ihn empört ist auch die Tatsache, dass gegen den einzigen Richter, der das Vorgehen des Präsidenten kritisierte und Anzeige erstattete, ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurde. «Das sind schon spezielle Verhältnisse», so Nigon.