Es geschieht am 17. Mai 2011 am Grenzübergang Au im Kanton St. Gallen. Die Grenzwächter kontrollieren ein Fahrzeug mit tschechischen Kontrollschildern. Drinnen sitzen zwei Männer und eine Frau, bekleidet nur mit einem Pyjama. Sie weint. Die Grenzwächter überprüfen die drei, separieren die Frau und fragen sie mittels Übersetzer aus dem Internet: Brauchen sie Hilfe?
Die Frau bejaht dies und erzählt, wie sie im 1200 Kilometer entfernten Trebisov in ein Auto steigen musste. Das Ganze arrangiert von ihrem Cousin, der sie an zwei ihr unbekannte Männer für 5000 tschechische Kronen – damals umgerechnet 250 Franken – verkaufte. Angeblich für Benzin, mutmasslich jedoch das Honorar für die Vermittlung.
Sie gehorcht ihrem Cousin und steigt ins Auto ein. Auf der Fahrt erfährt sie, dass sie sich in der Schweiz prostituieren soll. Sie weint und will zurück. Die mutmasslichen Täter versprechen ihr, sie komme bald wieder zurück. Bei der polizeilichen Befragung erklären die beiden, die Frau sei freiwillig mitgekommen und wollte sich prostituieren.
Gegen diese Version spricht: sie hatte erst 12 Tage zuvor ein Kind geboren. Am Zoll in Au werden die mutmasslichen Täter in U-Haft genommen und die Frau in ein Schutzhaus gebracht. Als sie zwei Tage später wiederum gegen die Täter aussagen soll, taucht sie ab, mutmasslich aus Angst. Sie will nach Hause zu ihrem Kind.
Mangelhafter Opferschutz?
Das sei schlecht gelaufen, sagt Rebecca Angelini von der Fachstelle gegen Frauenhandel in Zürich (FIZ). In einer solchen Situation sei es wichtig, dass eine Frau von Anfang einen speziellen Opferschutz bekommt. Insbesondere bei Fällen wie diesen, wenn Kinder involviert seien. «Wir machen die Erfahrung, dass dann eine Frau eher bereit ist zu bleiben, sie stabilisiert sich und die Chance, dass sie dann in einem Strafverfahren aussagt und kooperiert, ist viel grösser.»
Die Strafverfolgung von Menschenhandel obliegt den Kantonen. Genauso unterschiedlich werde dieser verfolgt, sagt Rebecca Angelini. Es gebe Kantone, die schlicht zu wenig tun und kaum Fälle hätten. Doch Menschenhandel würde meist nur dann aufgedeckt, wenn er aktiv bekämpft werde. Dafür brauche es entsprechende Ressourcen in den einzelnen Kantonen. Doch diese werden kaum gesprochen, «der politische Wille fehlt», kritisiert Angelini. In der Schweiz würden nur darum wenige Fälle aufgedeckt, sagt sie, weil so wenig ermittelt werde.
Bundesrätin Sommaruga kritisiert Kantone
Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga kritisiert: «Es gibt Kantone, die tolle Arbeit machen, Polizisten ausbilden und Teams bilden; die Zusammenarbeit von Opferhilfe, Frauenschutzorganisationen und Migrationsämtern klappt gut. Es hat aber auch Kantone in der Schweiz, die meinen, Menschenhandel gebe es bei uns nicht, dabei wir wissen alle: Menschenhandel findet im Verborgenen statt, man muss hinschauen und man muss vorbeischauen, sonst findet man die Opfer gar nicht. Hier erwarte ich, dass die Kantone bei sich hinschauen und alle die Arbeit machen.»
Opfer spurlos verschwunden
Europaweit sind schätzungsweise 880'000 Leute von Menschenhandel betroffen. Zur Schweiz gibt es keine verlässlichen Zahlen. Warum die junge Roma-Frau damals nicht einen grösseren Opferschutz bekam, wollte von der zuständigen Strafverfolgungsbehörde niemand sagen. Der Fall sei hängig und im Verfahren nimmt niemand Stellung.
Der Fall wurde heute vor dem St. Galler Kantonsgericht verhandelt. Das Urteil steht noch aus. Die beiden mutmasslichen Täter sind nicht zum Prozess erschienen. Auch das Opfer fehlte. Die Frau ist spurlos verschwunden. Fachleute fürchten, dass sie wieder gefangen ist im Milieu der Menschenhändler.