Die mächtige Staumauer des Kraftwerks Lucendro liegt unweit des Gotthardpasses. Das Wasser des Stausees Lago di Lucendro wird rund 1000 Höhenmeter tiefer genutzt, im Kraftwerk von Airolo. Dort stehen die Turbinen momentan jedoch meistens still. Corrado Rossini, der Leiter des Kraftwerks, erklärt: «Im Kraftwerk Lucendro werden drei Viertel des Stroms im Winter produziert und ein Viertel während der Sommermonate.» Mit dem Strom aus dem Kraftwerk würden rund 26'000 Haushalte versorgt.
Für das Energieunternehmen Azienda Elettrica Ticinese AET hat das Wasser vom Gotthardpass also eine wichtige Bedeutung. Ein Auge darauf geworfen hat allerdings auch die Urner Regierung. Sie möchte, dass der Stausee und das Kraftwerk Lucendro in Zukunft in Urner Händen sind. «Die Anlagen befinden sich zwar auf Tessiner Boden, das Wasser stammt aber zu 55 Prozent aus dem Einzugsgebiet des Kantons Uri», rechnet Baudirektor Roger Nager (FDP) vor. Deshalb soll künftig das Energieunternehmen EWA-Energie Uri für die Anlagen zuständig sein. Der Kanton ist am Unternehmen beteiligt.
Das Wasser stammt zu 55 Prozent aus dem Einzugsgebiet des Kantons Uri.
Mit der Tessiner Regierung stehe man bereits seit Jahren in Verhandlungen. Wenn die Übernahme des Kraftwerks nicht möglich sei, möchte der Kanton Uri mindestens eine bessere Abgeltung erzielen. Schliesslich werde das Urner Wasser im Tessin über die ganze Leventina hinweg genutzt.
Dass der Kanton Uri nun Anspruch auf das Kraftwerk anmeldet, hat mit dem Auslaufen der Wasserkraftkonzession nach 80 Jahren zu tun. Diese gehörte bisher einer Tochtergesellschaft der Alpiq. 2015 kaufte die AET, die sich zu 100 Prozent im Besitz des Kantons Tessin befindet, die Tochterfirma und wurde damit Eigentümerin des Kraftwerks Lucendro. Dass die Konzession nach 80 Jahren an die Kantone zurückfällt, weiss man schon länger.
Dass wir bis jetzt keine Einigung erzielt haben, heisst nicht, dass wir nicht im Gespräch bleiben.
Für den Tessiner Wirtschaftsdirektor Christian Vitta (FDP) ist klar: Das Kraftwerk soll weiterhin von der AET betrieben werden. Angesprochen auf den Stand der Verhandlungen bleibt er diplomatisch: «Der Dialog zwischen uns ist offen. Dass wir bis jetzt keine Einigung erzielt haben, heisst nicht, dass wir nicht im Gespräch bleiben.» Aber natürlich wolle jede Seite ihre Forderungen bestmöglich durchbringen.
Knatsch um Wasserrechte vielerorts möglich
Zwei Kantone oder Energieunternehmen im Clinch um eine Wasserrechtskonzession: Dieses Szenario dürfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch an anderen Orten in der Schweiz eintreten, sagt Ivo Schillig. Er ist Geschäftsführer des alpinen Forschungszentrums «AlpEnForce», das sich unter anderem mit der Wasserkraft beschäftigt. Viele der 80 Jahre dauernden Konzessionen müssten bald neu ausgehandelt werden: «Etwa die Hälfte der Konzessionen in der Schweiz werden zwischen 2030 und 2045 auslaufen.» Das sei sicher immer ein Moment, der Diskussionen ermögliche.
Diskussionen oder eben Streit: Im Fall der Lucendro-Konzession müssen sich Uri und Tessin bis ins Jahr 2025 einigen. Falls sie dies nicht schaffen, wird der Bund über die Zukunft des Kraftwerks entscheiden müssen.