«Ich bin ein langsamer Mensch», sagt Damian Bright. Der 30-Jährige hat das Down-Syndrom. Das schränkt ihn ein beim Lesen und Verstehen. Aber Bright sieht sich auch als politischen Menschen. Er machte schon als Kind bei Theaterproduktionen mit, später auch beim bekannten Theater «Hora», dessen Schauspieler alle eine geistige Behinderung haben. «Kultur und Politik – das hängt zusammen», ist Bright überzeugt.
Ich habe gewonnen und bekam meine Rechte zurück.
Aber Bright musste für sein Stimmrecht kämpfen. Als er 18 wurde, blieb er zunächst in der elterlichen Obhut. Das hiess auch, er bekam kein Stimm- und Wahlrecht. Nur weil er und seine Eltern sich wehrten und eine Abklärung machen liessen, bekam er etwas später doch das Wahlcouvert. Als aber das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht 2013 in Kraft trat, verlor er sein Stimm- und Wahlrecht wieder und musste erneut dafür kämpfen. Ein Kampf, der 2015 endgültig von Erfolg gekrönt war. «Ich habe gewonnen und bekam meine Rechte zurück», bilanziert Bright
Röstigraben bei Beistandschaften
Sein Beispiel zeigt: Ob eine geistig behinderte Person den Hürdenlauf hin zum Stimmrecht übersteht, ist vom Engagement des oder der Betroffenen und dem Umfeld abhängig.
Aber entscheidend ist auch die Behörde. Denn nicht überall wird nach den gleichen Kriterien entschieden. Anders ist es nicht zu erklären, warum überproportional viele umfassend verbeiständete Personen in den französischsprachigen Kantonen leben – etwa die Hälfte aller Betroffenen, obwohl in diesen Kantonen nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung wohnt (siehe Grafik). Die Gründe dafür kann man nur vermuten.
Jan Habegger, stellvertretender Geschäftsführer von «Insieme Schweiz», einem Zusammenschluss von Angehörigen-Vereinen von Behinderten, vermutet, dass die Behörden in der Westschweiz eine andere Gewichtung vornehmen. «Wenn es darum geht, zwischen dem Schutz einer Person und ihrem Selbstbestimmungsrecht abzuwägen, kann ich mir vorstellen, dass man in der Westschweiz im Zweifelsfall eher auf der sicheren Seite sein möchte und so gewisse Rechte einschränkt.»
Auch der Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), Andreas Rieder, denkt, dass es hier um ein unterschiedliches Staatsverständnis in der Deutsch- und in der Westschweiz geht, das sich auch in anderen Bereichen zeigt. «Der Umgang des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern spielt hier sicher eine Rolle», so Rieder.
Gleichzeitig ist es wohl nicht zuletzt eine Folge dieser relativ hohen Zahl von Menschen unter umfassender Beistandschaft im Kanton Genf, die dazu führte, dass deren Situation zum politischen Thema wurde. Initiiert von der Linken gab es im Kanton Genf im November 2020 eine Volksabstimmung, in der mit einer Dreiviertelmehrheit das Stimmrecht auch diesen offiziell nicht urteilsfähigen Menschen verliehen wurde.
EBGB-Leiter Rieder sagt: «Meine persönliche Einschätzung ist, dass es schon in eine ähnliche Richtung gehen könnte wie in Genf; dass nämlich diese Menschen nicht mehr generell von politischen Rechten ausgeschlossen werden.» Kommen Bundesrat und Parlament tatsächlich zu diesem Schluss, haben Volk und Stände das letzte Wort, weil die Bundesverfassung geändert werden müsste. Dort steht heute unmissverständlich, dass Personen keine politischen Rechte geniessen, wenn sie «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind».
Würde diese Bestimmung fallen, erfüllte die Schweiz eine dringende Empfehlung des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dieser hat die Schweiz, die die entsprechende UNO-Konvention 2014 ratifiziert hat, im März erstmals unter die Lupe genommen.
Verständliches Deutsch
Das fehlende Stimmrecht für Menschen mit einer umfassenden Beistandschaft ist das eine, noch mehr Menschen aber sind zwar stimmberechtigt, haben aber wegen einer geistigen und kognitiven Schwäche Mühe, einen normalen Text zu verstehen. Schätzungen zufolge betrifft das in der Schweiz etwa 800'000 Menschen. Ihnen helfen Texte in sogenannt «Leichter Sprache».
2019 gab es für die eidgenössischen Wahlen zum ersten Mal eine Wahl-Anleitung in «Leichter Sprache», für nächstes Jahr denkt die Bundeskanzlei in Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden wieder über eine derartige Broschüre nach.
Anders liegt der Fall bei den Abstimmungen, die in der Schweiz allein auf Bundesebene bis zu vier Mal pro Jahr anstehen. Hier informiert der Bund im bekannten roten Heftchen über die einzelnen Vorlagen. Die Forderung, dass es auch von diesem Büchlein eine Ausgabe in «Leichter Sprache» geben soll, hat es sehr schwer.
Vor drei Jahren hat es der Nationalrat abgelehnt, den Bundesrat mit einem entsprechenden Pilotversuch zu beauftragen. Hauptargument: Diese Texte seien schon so einfach wie möglich und liessen sich nicht beliebig weiter verkürzen. Zudem sehen Bundesrat und Parlamentsmehrheit das Risiko, dass Abstimmungsverlierer bei Beschwerden gegen ein Ergebnis die Ausführungen in «Leichter Sprache» als zusätzliches Argument heranziehen könnten.
Ich suche online nach Erklärvideos oder ich schaue die Arena – dann kann ich mir auch eine Meinung machen.
Andreas Rieder, der EBGB-Leiter, rät, sich nicht zu sehr auf dieses «Bundesbüchlein» zu fixieren. «Wichtiger ist es, dass daneben Informationsmaterial zur Verfügung steht, das leicht verständlich ist.» Er denkt dabei an Filme, zum Beispiel Erklärvideos.
Tatsächlich schwört auch Damian Bright auf solche Videos: «Ich suche danach im Internet», sagt er. «Oder ich schaue ab und zu die Arena. Dann kann ich mir auch eine Meinung machen.» Trotzdem hat er den Ehrgeiz, das Abstimmungs-Büchlein durchzuackern. Auch wenn dabei zum Teil immer neue Fragen auftauchen.
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Jedenfalls brauche er dafür lange. «Es kostet mich einen ganzen Morgen», sagt Bright. Und für ihn ist klar, es bräuchte in der Schweiz mehr politische Informationen in «Leichter Sprache». Er denke dabei auch, sagt Bright, an Menschen mit stärkeren geistigen Einschränkungen als er sie hat: «Auch diese Menschen sollen abstimmen dürfen. Und wenn sie dürfen und es auch wollen, wären solche Texte für sie eine grosse Hilfe.»