Die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi setzt sich kurz vor einer Kommissionssitzung in eine Nische in einem der Gänge des Bundeshauses. Sie tritt ruhig und überlegt auf. Warum sie oberste Gewerkschafterin werden möchte? «Dieses Engagement ist enorm wichtig für alle Arbeitenden in diesem Land. Da will ich mehr tun und mich wirklich noch besser engagieren.»
Die 54-jährige Sozialpädagogin ist Präsidentin des Bundespersonalverbandes sowie des Kantonalen Gewerkschaftsbundes St. Gallen. Seit sieben Jahren sitzt sie im Nationalrat, wo sie sich vor allem mit sozial- und personalpolitischen Themen befasst. Sie sagt: «Fast alle Menschen leben von Lohneinkommen. Sie müssen gute Bedingungen haben und an dem, was sie erarbeiten, auch teilhaben.»
Es ist wichtig, dass auch die nicht bezahlte Arbeit etwas stärker in den Fokus kommt, weil sie die Bedingungen der bezahlten Arbeit beeinflusst.
Für Gleichstellung und gegen Mitgliederschwund
Als SGB-Präsidentin würde sie den Kampf für gute Gesamtarbeitsverträge und für die flankierenden Massnahmen fortsetzen, sagt Gysi. Neue Akzente setzen möchte sie in der Gleichstellungsfrage: «Als Dachverband hat der SGB hier nicht so aktiv gehandelt. Es ist wichtig, dass auch die nicht bezahlte Arbeit stärker in den Fokus kommt, weil sie die Bedingungen der bezahlten Arbeit beeinflusst. Das war in den letzten Jahren nicht auf dem Radar.»
Damit will sie einem der grössten Probleme der Gewerkschaften begegnen, dem Mitgliederschwund. Der SGB hat in den letzten zehn Jahren fünf Prozent seiner Mitglieder verloren und vertritt heute noch rund 350'000 Angestellte. Nur 30 Prozent davon seien Frauen, da müsse man ansetzen, sagt Gysi.
Der Dialog innerhalb des SGB sei ebenfalls verbesserungswürdig, sagt sie. «Ich stelle in den Gesprächen fest, dass die Gesprächskultur sicher ausbaufähig ist. Ich möchte diese Kultur ändern, ich möchte wirklich in einem intensiven Austausch mit den einzelnen Gewerkschaften, aber auch mit der Basis sein.»
Starke Konkurrenz durch Arbeitersohn Maillard
Wegbegleiter trauen der SP-Vizepräsidentin das Amt zu. Sie sei äusserst kompetent, konstruktiv und durchsetzungsfähig, heisst es. Der Verband öffentlicher Angestellter VPOD hat eine Petition lanciert, die eine Frau an der Spitze des Gewerkschaftsbundes fordert. Noch ist sie aber nicht gewählt.
SP-Nationalrätin Gysi ist eine hartnäckige Kämpferin, doch sie hat einen äusserst starken Konkurrenten. Pierre-Yves Maillard blickt durch das Fenster seines Büros auf Lausanne, den Genfersee und die Savoyer Berge dahinter. Der Waadtländer Staatsrat und ehemalige SP-Nationalrat will oberster Gewerkschafter des Landes werden, weil es viel zu tun gebe: «Ich bin Sohn einer Arbeiterfamilie», sagt er. «Wir waren fünf; drei Kinder, zwei Erwachsene. Damals konnte meine Familie mit einem einzigen Arbeiterlohn normal leben.»
Das sei heute nicht mehr möglich, da die Fixkosten gestiegen seien; die Krankenkassenprämien und die Mieten. Es brauche heute zwei Einkommen, damit eine Arbeiterfamilie überleben könne, sagt der 50-jährige Sozialdemokrat. Da habe er als Gesundheits- und Sozialdirektor angesetzt.
Ich schlage vor, dass wir den Arbeiterfamilien mit einer Art neuen Sozialpolitik helfen, denn die Löhne werden nicht genügen.
Unter seiner Ägide hat der Kanton Waadt Ergänzungsleistungen für Familien geschaffen, Kinderzulagen und Stipendien erhöht. Heute müssen Waadtländer Familien nicht mehr als zehn Prozent ihres Einkommens für Krankenkassenprämien aufwenden. Als Chef des SGB möchte Maillard an diese Errungenschaften anknüpfen, und neben höheren Löhnen für bessere Sozialleistungen kämpfen. «Ich schlage vor, dass wir den Arbeiterfamilien mit einer Art neuen Sozialpolitik helfen, denn die Löhne werden nicht genügen.»
Maillard wird als intelligent, gewinnend, äusserst zielstrebig und zuweilen auch als herrisch beschrieben. Als Staatsrat erwies er sich auch als kompromissbereit. So hat sich der linke SP-Mann für Steuergeschenke an Novartis stark gemacht, als der Pharmakonzern in Nyon über 400 Stellen streichen wollte. Das habe sich gelohnt: «Jetzt sind ungefähr 1000 Arbeitsplätze dort. Wie hätte ich das nicht unterstützen können? Wir müssen uns engagieren, um die Arbeitsplätze zu retten, besonders in der Industrie.»
Zur Frauenfrage sagt Maillard, er habe sich stets für Gleichstellung eingesetzt, mehr als die Hälfte der Kader in seinem Amt seien Frauen. Das werde er auch beim SGB tun. Die drei grössten Gewerkschaften – die Unia, der Eisenbahnerverband SEV und die Post- und Kommunikationsgewerkschaft Syndicom – empfehlen ihn zur Wahl. Maillards Chancen stehen damit besser als jene Gysis. Wer an die SGB-Spitze gelangt, entscheiden die Delegierten.