Stefan hat 40 Jahre lang als Informatiker gearbeitet, immer Vollzeit. Bei der Pensionierung hat er den Kapitalbezug gewählt: 1 Million Franken. Klingt nach enorm viel. Und doch sagt er, ohne Sicherheiten würde er das niemandem empfehlen.
Nach 18 Jahren ist das Geld weg
Stefan hat gerechnet: Das Geld würde für ihn und seine Frau 18 Jahre lang reichen. Dann wäre er 83, seine Frau ist jünger. «Dieses Risiko würde ich nicht eingehen», sagt er, «aber ich wusste, dass wir von den Schwiegereltern ein Haus erben. Und ich spare Steuern.»
Stefan ist der klassische Fall: Bei grossen Altersguthaben lohnt sich der Kapitalbezug steuerlich. Denn die Rente gilt als Einkommen und wird höher besteuert als das Kapital, das als Vermögen gilt.
Mal richtig viel Geld auf dem Konto
Allerdings: Was Fachleute vor allem für grosse Pensionskassenvermögen empfehlen, machen immer öfter auch Leute mit kleinerem Polster. Eine der grössten Pensionskasse der Schweiz, Publica, hat bei 13'000 Personen, die zwischen 2013 und 2023 pensioniert wurden, eine Erhebung durchgeführt.
Bei Personen mit höchstens 400'000 Franken Altersguthaben ist der Anteil derer, die alles aufs Mal nehmen, besonders gross. Als Gründe nennen sie gesunkene Umwandlungssätze, die Angst, früh zu sterben – oder auch den Wunsch, mal richtig viel Geld auf dem Konto zu haben.
Lukas Müller-Brunner vom Pensionskassenverband beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Er hat die Übersicht über 900 Pensionskassen und warnt vor den langfristigen Folgen des Trends: «Wir haben einen ausgebauten Sozialstaat und lassen am Ende des Lebens gottlob niemanden im Stich. Aber wenn die Entwicklung so weitergeht, stellt uns das in 20–30 Jahren vor sozialpolitische Probleme.»
Wer soll das alles bezahlen
Wenn eine Pensionskasse Renten bezahlt, übernimmt sie das Risiko, dass jemand länger lebt, als die Statistik vorhersagt. Und sie trägt das Risiko des Auf und Ab an den Finanzmärkten. Beim Kapitalbezug trägt der oder die Einzelne diese Risiken. Und die Erfahrung zeigt: Wir neigen zu Fehleinschätzungen. Wir unterschätzen, wie alt wir werden und überschätzen, wie lange das Geld reicht. Oftmals ist es im hohen Alter aufgebraucht. Dann, wenn viele ins Pflegeheim kommen und die Kosten stark steigen. Spätestens dann übernimmt die öffentliche Hand, also die Steuerzahlenden.
Auch Eliane Albisser vom gewerkschaftsnahen PK-Netz kritisiert den Trend zum Kapitalbezug. Sie sieht darin allerdings die Quittung für die Pensionskassen-Politik der vergangenen Jahre: «Wenn immer mehr Menschen sich fragen, ob sich die Rente für sie überhaupt lohnt, ist die Leistungsfähigkeit der zweiten Säule infrage gestellt.»
Steuer-Bonus streichen?
Eliane Albisser möchte die steuerliche Vergünstigung des Kapitalbezugs abschaffen. Eine Idee, die seit Kurzem auch von der Politik diskutiert wird. Ausserdem will die Gewerkschaftsvertreterin den Finanzberatern genauer auf die Finger schauen. Denn die Branche profitiere stark vom Trend und neige dazu, die Risiken des Kapitalbezugs nur im Kleingedruckten zu erwähnen.
Lukas Müller-Brunner dagegen ist skeptisch, ob diese Ideen taugen. Das Steuerprivileg abzuschaffen, empfindet er als Bevormundung. Und bei der Finanzbranche setzt der Direktor des Pensionskassenverbands lieber auf Information und Transparenz als auf Regulierung.