Uneheliche Kinder waren in der Schweiz bis 1977 Kinder zweiten Ranges – auch per Gesetz. Durch die so genannte Zahlvaterschaft musste ein Vater zwar für ein uneheliches Kind zahlen. Eine Verwandtschaft wurde aber nicht begründet. Das heisst, die Kinder hatten kein Erbrecht, kein Bürgerrecht und kein Anrecht auf den Namen des Vaters.
Das Bundesparlament tat das seine dazu: Es schaffte das Konstrukt per Januar 1978 zwar ab, erliess aber nur mickrige Übergangsbestimmungen. Eine Begründung war, dass die Ehe auch bei einem Seitensprung des Vaters intakt bleiben sollte. So erhalten die damaligen Zahlkinder auch heute keinen Rappen vom Erbe, wenn der leibliche Vater stirbt.
«Eine uneheliches Kind war ein unehrliches Kind»
Eines dieser Kinder ist Theres (Name geändert), eine 60-jährige Bäuerin aus der Ostschweiz. Sie sagt: «Früher war das eine Schande. Ein uneheliches Kind war ein unehrliches Kind.» Das ganze Dorf habe gewusst, dass sie ein Kegel – ein uneheliches Kind – war. Nur sie nicht.
«In der Schule sagten sie: ‹Du bist angenommen, du gehörst nicht hierher.›» Auch zuhause sei sie anders behandelt worden als die Geschwister, erzählt Theres. Sie habe öfter mal im Haushalt oder im Stall helfen müssen, statt in die Schule zu gehen. Zudem sei sie geschlagen worden, erzählt die Bäuerin.
Erst als sie schon fast erwachsen war, erfuhr sie, dass es stimmte, was alle sagten: Ihr leiblicher Vater war ein anderer. Wie ihre Mutter ihren Vater kennengelernt hatte, weiss Theres nicht. «Über diese Sachen sprach man nicht.» Das einzige, was ihre Grossmutter ihr erzählt hatte, war, dass ihre Mutter auf einmal schwanger war.
Plötzlich tauchte ein Vertrag auf
Auf Wunsch ihrer Mutter bohrte Theres nicht nach. Erst Jahre später kontaktierte sie das Waisenamt. Sie erfuhr: Ihr Vater war inzwischen verstorben. Seine Schwester lebte aber noch. Es entstand eine herzliche Beziehung zwischen Theres und ihrer Tante.
Als diese vor einem Jahr starb, tauchte ein Vertrag auf. Theres erfuhr, dass ihr leiblicher Vater ein Zahlvater war. Er hatte den Vertrag drei Monate nach ihrer Geburt unterschrieben. 600 Franken hatte er für die Entbindung gezahlt, danach ein paar Dutzend Franken jeden Monat bis zu ihrem 18. Geburtstag.
Zahlvater ist nicht gleich Vater
Dieser Vertrag offenbarte vieles. Theres ging auf, dass der leibliche Vater jahrelang Geld geschickt hatte. Dieses hatte ihr Stiefvater abgezweigt und ihr gleichzeitig verboten, eine Lehre zu machen – aus finanziellen Gründen.
Weiter, so erfuhr sie, stand zwar das Wort Vater im Vertrag. Doch ein Zahlvater zählt per Gesetz nicht als Vater. «Ich konnte das nicht begreifen.» Ihr Anwalt George Weber hätte es ihr dann erklärt.
Keine verwandtschaftliche Beziehung
«Bis 1978 gab es Kind einerseits und Kegel andererseits», so Weber gegenüber SRF. «Man ist früher davon ausgegangen, dass nur eheliche Kinder richtige Kinder sind. Diese Kinder hatten den Namen, das Bürgerrecht und das Erbrecht mit dem Pflichtteilschutz des Vaters.» Die ausserehelichen Kinder hatten das nicht.
Weber erklärt: «Der Erzeuger konnte still und heimlich für sein aussereheliches Kind zahlen, ohne dass er als Vater bekannt und dann in den Zivilstandsregistern eingetragen wurde.» Zahlväter hatten also finanzielle Verpflichtungen, eine verwandtschaftliche Beziehung zum Kind bestand aber nicht.
Ungleichbehandlung im Gesetz
Heute leben in der Schweiz geschätzt noch mehrere zehntausend Kegel, also uneheliche Kinder, die vor der Kindesrechtsrevision 1978 geboren wurden. Und obwohl das Gesetz vor 40 Jahren abgeschafft wurde, wirkt die Zahlvaterschaft gerade im Erbrecht heute noch nach.
Stirbt der leibliche Vater, erhält das Zahlkind nichts. Sogar, wenn ein Testament oder ein Erbvertrag besteht, wird es wie eine Drittperson behandelt und zahlt Erbschaftssteuern. Diese betragen je nach Kanton bis zu 54 Prozent.
«Mir geht es um Gerechtigkeit»
«Daran schuld sind unsere Parlamentarier in Bern. Die haben das bis heute nicht geändert und jetzt besteht auch kein Interesse mehr, das zu tun», so Weber. Es sei das, was seinen Klienten bis heute am meisten weh tut: Dass der Staat es ihnen verweigere, als richtiges Kind anerkannt zu werden.
Auch Theres musste Erbschaftssteuern zahlen, als sie beim Tod ihrer Tante etwas Geld erbte. Als Nichte hätte sie es einfach so bekommen – als Zahlnichte eben nicht. «Mir geht es nicht ums Geld», sagt Theres. «Mir geht es um Gerechtigkeit.»
Diese Gerechtigkeit, die Anerkennung als Kind ihres leiblichen Vaters, wird sie unter dem heutigen Recht nicht bekommen. Und so geht es Theres wie so vielen Zahlkindern: Von der Gesellschaft wird sie als unehelich stigmatisiert, vom Stiefvater wird sie ums Geld betrogen und vom Staat bekommt sie bis heute den Stempel aufgedrückt: Du bist ein Kind zweiten Ranges oder eben ein Kegel statt ein Kind.
SRF News: Das Konstrukt der Zahlvaterschaft wurde 1907 eingeführt. Was war damals eigentlich die Idee?
Peter Breitschmid: Es war insofern ein Fortschritt, als dass durch die Zahlvaterschaft gesamtschweizerisch für aussereheliche Kinder eine soziale Sicherung im Gesetz eingebaut wurde.
Dieses Bild des Kindes und auch das der Familie insgesamt begannen sich spätestens in den 60er- und 70er-Jahren zu ändern. Die Zahlvaterschaft ist nun ein überholtes Relikt. Was hat zu diesem Meinungswandel beigetragen?
Sicher das Bewusstsein, dass eine Zweiklassengesellschaft etwas Rechtswidriges ist. Es hat relativ lange gedauert, bis sich die Vorstellung einer allgemeinen Fairness durchgesetzt hat. Aus heutiger Sicht ist sie unausweichlich.
Letztlich haben sich die Befürworter des neuen Kindesschutzes durchgesetzt. Auf Januar 1978 wurde es in Kraft gesetzt und damit auch die Zahlvaterschaft abgeschafft – sie wirkt aber bis heute nach.
Sie wirkt nach, denn im Gesetzgebungskompromiss von damals war eine Rückwirkung des neuen Rechts auf zehn Jahre beschränkt und nicht auf alle noch unmündigen Kinder. Das war ein politischer Kompromiss und das lässt sich rückwirkend praktisch nicht abändern. In der Juristerei gilt der Grundsatz, dass neues Recht nicht rückwirken darf.
Ich glaube, das ist kein schlechter Grundsatz – ich betone Grundsatz. Denn wir können die Vergangenheit tatsächlich nicht ungeschehen machen. Aber damit ist damals natürlich die nichtvollständige Kind-Vater-Beziehung zementiert worden. Wenn heute Erbfälle eintreten, besteht zwischen den Vätern und den Kindern keine verwandtschaftliche Beziehung im Sinne des Gesetzes.
Was war die Motivation der Parlamentarier dazumal?
Die Entscheidung hat ein Männer-Parlament getroffen. Es ging da offensichtlich auch um Eigeninteressen. Die damalige Haltung des Parlaments war sicher weniger am Gemeinwohl ausgerichtet, es gab eine egoistische Denkweise etlicher Männer, das darf man heute so feststellen. Insofern war sicher auch diese übergangsrechtliche Ordnung ein eher schlechter politischer Kompromiss.
Gäbe es heute noch eine Möglichkeit, diese damals geschaffene Ungerechtigkeit zu bereinigen?
Es gibt zwei Ebenen: Das eine mag eine gewisse Enttäuschung darüber sein, dass sich der eigene genetische Vater nicht für einen interessiert hat. Diese Altlast lässt sich rechtlich nicht bereinigen. Auch eine nachträgliche Anpassung dieser vor 40 Jahren geschaffenen Übergangsbestimmungen ist meines Erachtens abzulehnen, da es neue Ungerechtigkeiten schaffen könnte. Das andere, worüber man tatsächlich diskutieren müsste, ist die erbschaftssteuerliche Diskriminierung. Hier wäre der Gesetzgeber gefordert – doch da die Erbschaftssteuer in kantonaler Hoheit liegt, würde eine flächendeckende Anpassung auch eine Generation dauern.
Das Gespräch führte Maj-Britt Horlacher.