Ist der Rückgang der Insektenvielfalt in der Schweiz ähnlich schlimm wie im deutschen Krefeld? Dort schrumpfte die Biomasse der fliegenden Insekten in nur 30 Jahren um 75 Prozent. Jetzt liegt der erste umfassende Bericht für die Schweiz vor und Hauptautor Florian Altermatt sagt: «Die Vielfalt schrumpft teilweise dramatisch, auch heute noch in allen Regionen der Schweiz. Wir sehen, dass Zweidrittel der Arten gefährdet oder potenziell gefährdet sind.»
Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen, auch in der Schweiz. Die Zahl der Schmetterlinge etwa hat im letzten Jahrzehnt wieder zugenommen. Doch das sei kein Widerspruch, sagt Altermatt. «Es sind überall die gleichen Arten, die zunehmen. Es sind generalistische, wärmeliebende Arten. Sie breiten sich aus und werden häufiger. Aber das kompensiert die Rückgänge nicht.»
Früher: Schneetreiben aus Eintagsfliegen
Für ein Gesamtbild sei es wichtig, weit zurückzuschauen, denn viele Insektenbestände seien schon früh eingebrochen. Im 19. Jahrhundert zum Beispiel traf man in der Region Bern noch etwa 100 Schmetterlingsarten, Ende des 20. Jahrhunderts waren es gerade noch 40 – unterdessen sind es – dank Klimaerwärmung – etwa 50 Arten. Die Zunahme erfolgte also auf sehr niedrigem Niveau. Was die schiere Masse an Insekten angeht, ist man auf alte Beschreibungen angewiesen.
So gab es vor 100 Jahren an den Flüssen noch Schwärme von Eintagsfliegen, die wie Schneetreiben wirkten; ein gefundenes Fressen für die Fische, aber auch viele andere Tierarten wie Vögel. «Die meisten Vögel ziehen ihre Jungen zu Zeiten auf, in denen ein sehr grosses Angebot an Insekten vorhanden sein muss. In Gewässern ist es so: Wenn die Insekten verschwinden, verschwinden auch die Fische», so Altermatt.
In Gebieten, die vom Menschen weitgehend unberührt sind, sieht es anders aus: Im Nationalpark etwa ist die Zahl der gut 30 Steinfliegenarten an den Bächen in den letzten 80 Jahren fast gleich geblieben. In der Hälfte der pestizidbelasteten Bäche im Mittelland hingegen gibt es unterdessen gar keine Steinfliegen mehr.
Ähnlich drastisch ist die Lage in den Wiesen. Wegen der Überdüngung mit zu viel Gülle und Kunstdünger ist die Zahl der Pflanzenarten auf einen Bruchteil geschrumpft. Insekten und Blütenpflanzen haben sich über Jahrmillionen aneinander angepasst. Ohne die entsprechenden Pflanzen verschwinden auch die spezialisierten Insekten. «Das ist eine Entwicklung, die gerade im Mittelland oder im Jura stark fortgeschritten ist und die jetzt leider auch im alpinen Raum Einzug hält.»
Die Datengrundlage sei jetzt klar genug, sagt Altermatt. «Man weiss, wo welche Arten vorkommen und welche Massnahmen notwendig sind. Jetzt wäre es wichtig, dass diese Massnahmen umgesetzt werden.»
12-Punkte-Programm zum Schutz der Insekten
Die Wissenschaftler haben ein 12-Punkte-Programm zum Schutz der Insekten geschrieben: Sie fordern den Schutz bestehender Insekten-Hotspots und die Ausdehnung der guten Lebensräume. Sie fordern eine Reduktion der Pestizide, eine Reduktion der Düngung, des Tierbestandes und weniger Lichtverschmutzung. Das sind alles keine neuen Themen. Wie dringlich sie sind, zeigt der massive Rückgang der Insekten.