Gekündigt wegen eines Glasreinigers? Gibt’s nicht? Gibt’s doch! Gabriele M. hat es erlebt. Die 62jährige OP-Pflegefachfrau will mit ihrem Chef die Umsetzung von Schutzmassnahmen in der Praxis während des Lockdowns besprechen. Als Risikopatientin liegt das in ihrem eigenen Interesse. Der Arbeitgeber hält an seinem Reinigungskonzept fest. Der üblicherweise verwendete Oberflächen- und Glasreiniger genüge, sagte er laut M..
Schutz von Patienten
Eine Haltung, die Gabriele M. mit ihrer beruflichen Verantwortung nicht vereinbaren kann. Ihre Anliegen und Bedenken hält sie schriftlich fest und schickt den Brief ihrem Arbeitgeber. Daraufhin kündigt ihr der Arzt. In der Kündigung verweist er explizit auf ihren Brief und das Gespräch mit ihr. Und auch auf sein Reinigungskonzept. «Es hat mich schon sehr erschrocken, dass ich meine Kündigung gekriegt habe», sagt Gabriele M. Sie denke, dass sie korrekt gehandelt habe – im Sinne der Praxis und zum Schutz der Patienten.
Die Ärztevereinigung FMH und die Gesellschaft für Handchirurgie SGH haben für ihre Mitglieder Covid-19-Schutzkonzepte ausgearbeitet. Punkto Desinfektion nach der Behandlung halten diese fest: «Desinfizieren von Liegen, Geräten, Türklinken, Tischflächen und Stuhlarmlehnen, mit denen die Patientinnen und Patienten direkt in Berührung gekommen sind.»
«Keine sichere Desinfektionswirkung»
Der in der Praxis verwendete Reiniger ist aber kein Desinfektionsmittel. Auch nicht nach den gelockerten und befristeten Covid-Bestimmungen des Bundes. Das Bundesamt für Gesundheit schreibt, dass mit dem Reiniger «keine sichere Desinfektionswirkung erzielt» werde. Auch Hersteller Diversey bezieht in Sachen Desinfektionswirkung des eingesetzten Produktes klar Stellung: «Taski Sprint Glass Reiniger ist nicht für den desinfizierenden Einsatz vorgesehen, da der Alkoholgehalt hierfür nicht ausreicht.»
Missbräuchliche Kündigung
Roger Rudolph, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Zürich, hat sich Umstände und Kündigung für «Kassensturz» genauer angeschaut. Für ihn ist der Fall schon fast lehrbuchmässig. «Es spricht vieles dafür, dass es sich um eine missbräuchliche Kündigung, eine sogenannte Rachekündigung, handelt», so Rudolph. Als Reaktion auf ihr Verhalten erhalte die Mitarbeiterin die Kündigung, so der Arbeitsrechtsexperte. «Das ist eigentlich der klassische Tatbestand der missbräuchlichen Kündigung.» Bitter: Eine solche bleibe aber, auch wenn missbräuchlich, gültig.
Der Arzt schreibt «Kassensturz» in einer Stellungnahme, die Kündigung sei aus seiner Sicht gerechtfertigt. Über eine allfällige Missbräuchlichkeit müsste ein Arbeitsgericht entscheiden. Ausserdem habe es zum Zeitpunkt der Kündigung keine Reinigungsvorschriften oder Empfehlungen für Arztpraxen gegeben.
Gabriele M. hat bei ihrem Arbeitgeber eine Einsprache zur Kündigung deponiert. Nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses hat sie 180 Tage Zeit auf Entschädigung zu klagen. Bis zu sechs Monatslöhne sieht das Gesetz vor. Viel wichtiger wäre Gabriele M. aber eine neue Stelle.