Der Rechtsstaat Schweiz basiert auf Gesetzen. Aber diese veralten, müssen modernisiert werden und neue Entwicklungen erfordern ganz neue Gesetze. Wenn ein neues Gesetz entsteht, setzt sich eine gewaltige Maschinerie in Betrieb, die sich oft jahrelang hinzieht. Gestritten wird dabei meistens um dieselben zwei Fragen: Wer befiehlt und wer zahlt? Doch was schwerfällig wirkt, sei die eigentliche Stärke des Prozesses, sagen Experten.
Ein Gesetz muss vollzugstauglich sein. Das setzt voraus, dass man sich genug Zeit dafür nimmt. Man schreibt ja nicht einfach so ein Gesetz.
Ein grosser Teil dieser Gesetzesarbeit geschieht hinter den Kulissen. Das zeigt ein konkretes Beispiel, nämlich das neue Strassengesetz des Kantons Aargau. Radio SRF konnte den Prozess über mehrere Jahre lang begleiten. Dabei entstanden Einblicke in Prozesse, die sich normalerweise hinter den Kulissen abspielen. Entstanden ist eine Reise durch den Aargau – immer mit der Frage im Kopf: Wie entsteht eigentlich ein Gesetz?
Es brodelt wegen des lieben Geldes
Die Arbeiten am neuen Strassengesetz des Aargaus beginnen Mitte 2018. Das alte Gesetz stammt aus dem Jahr 1970. Es regelt, wie kantonale Strassen gebaut, unterhalten und finanziert werden. So legt es u. a. fest, dass sich Gemeinden an Sanierungen von Kantonsstrassen beteiligen müssen, die durch ihr Gebiet führen.
Arme Gemeinden müssen nach dem alten Gesetz prozentual weniger bezahlen als reiche. Das führt dazu, dass gewisse Gemeinden nur etwa ein Drittel der Kosten bezahlen müssen. Andere hingegen müssen viel mehr übernehmen. Wie diese Anteile genau errechnet werden, ist aber nicht klar definiert. Deshalb gibt es dauernd Streitereien zwischen den Gemeinden und dem Kanton über die Höhe der Beiträge. Die Unzufriedenheit mit dem Gesetz nimmt von verschiedener Seite zu. Es brodelt im Kanton.
Es ist wie bei einem Dampfkochtopf, der Druck nimmt zu. Jetzt braucht es eine Gesetzesrevision
Ausdruck davon sind diverse Vorstösse aus dem Kantonsparlament. Kantonsrätin Regula Häseli aus Wittnau im Fricktal verlangt zum Beispiel, dass der Kanton seine Strassen innerorts vollständig selber zahlen solle. Aber auch die Baufachleute der Gemeinden kritisieren die unklare Situation gegenüber der Regierung.
Der grosse Wurf stürzt ab
Die Regierung erteilt den Auftrag, ein neues Gesetz auszuarbeiten. Projektleiter wird Hans-Martin Plüss. Er arbeitet im Stab des Baudepartements des Kantons und entscheidet sich, unterstützt von der Regierung, einen grossen Wurf zu wagen, einen Systemwechsel. Weg von den Beiträgen an einzelne Projekte hin zu einer Pauschale. Die Gemeinden sollen jedes Jahr einfach fix vier Steuerprozente zahlen in eine Kasse für Strassenprojekte.
Plüss präsentiert seinen Vorschlag dem Koordinationsgremium Kanton Gemeinden (KKG). Im Gremium sitzen Fachleute aus diversen Gemeinden des Aargaus. Sie werden frühzeitig informiert, wenn der Kanton an einem neuen Gesetz arbeitet. Sie können ihre Meinung äussern, dürfen aber mit niemandem über die Pläne des Kantons sprechen. Die Arbeit hinter den Kulissen eines Gesetzes soll nicht durch zu frühe politische oder mediale Interventionen gestört werden.
Nein, so kann das nicht herauskommen, nein wirklich nicht.
Das Gremium verwirft den ersten Gesetzesentwurf. Die Fachleute aus den Gemeinden, allen voran die Gemeindepräsidentin von Gontenschwil, Renate Gautschy, befürchten, die Gemeinden verlieren ihr Mitspracherecht bei Bauprojekten des Kantons. Bis jetzt ist es so, dass die Gemeindeversammlungen die Beiträge der Gemeinden bewilligen müssen. Das löst manchmal hitzige Diskussionen aus. Der Kanton ist also gut beraten, seine Bauprojekte sehr genau mit den Gemeinden anzuschauen.
Eine fixe Pauschale pro Jahr würde die Gemeindeversammlungen der Möglichkeit berauben, solche Diskussionen zu führen. Deshalb das «Nein» des KKG. Die Projektleitung muss also zurück an den Anfang, ein ganzes Jahr Arbeit ist zunichtegemacht.
Die Deadline steht, es pressiert
Beim neuen Anlauf steht Hans-Martin Plüss unter Druck. Er weiss, es bleiben ihm noch fünf Monate, bis das Gesetz Mitte 2020 in die Anhörung gehen würde. Er muss also Vollgas geben. Und es gelingt: Im Juni 2020 lädt die Regierung zur Medienkonferenz. Die Öffentlichkeit erfährt erst jetzt, dass es ein neues Strassengesetz geben soll. Zwei Jahre Vorarbeiten sind zu diesem Zeitpunkt schon geleistet, alles unter dem Mantel der Vertraulichkeit.
An der Medienkonferenz wird klar: Es bleibt dabei, dass die Gemeinden Beiträge pro Projekt bezahlen. Die Pauschale ist vom Tisch. Neu ist aber der Verteilschlüssel. Die Gemeinden zahlen fix ein Drittel an Kantonsstrassen innerorts, der Kanton zahlt zwei Drittel.
Die Gemeinden freuen sich über diesen Kurswechsel. Und sie merken, dass sie pro Jahr summa summarum 10 Millionen Franken weniger bezahlen müssten. Deshalb machen sie Druck, dass das neue Gesetz möglichst schnell in Kraft treten soll, nämlich schon Anfang 2022 und nicht erst Anfang 2023.
Die Regierung geht darauf ein. Und ab dann muss alles Schlag auf Schlag gehen: Vernehmlassung, Botschaft an das Kantonsparlament, Arbeit in der zuständigen Kommission, Ratsdebatten, allenfalls ein Referendum, Erstellen der Verordnung zum Gesetz, Schulung der Gemeinden, Inkraftsetzung Anfang 2022. Die Projektleitung ist im Dauerstress.
Die Vernehmlassung zeigt, dass die neue Finanzierung breit akzeptiert ist. Aber bei der Strassenbeleuchtung gibt es zunehmend Opposition. Die Strassenlaternen neben den Kantonsstrassen innerorts sollen neu dem Kanton gehören - und nicht wie bisher den Gemeinden. Baulich seien Lampen und Strassen eine Einheit, deshalb sollen sie den gleichen Eigentümer haben, so das Argument des Kantons. Dagegen wehren sich die Gemeinden.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Grosse Rat einfach so enteignen will
Das Aargauer Kantonsparlament, der Grosse Rat, diskutiert im März und im Juni 2021 über das neue Strassengesetz. Bei den Strassenlampen macht die Regierung einen Rückzieher. Am Schluss geschieht ein kleines politisches Wunder: Das Gesetz, das doch etliche Irrungen und Wirrungen durchgemacht hat, kommt am Schluss einstimmig durch und gilt seit dem 1. Januar 2022. Vier Jahre Arbeit waren dafür nötig. Zufrieden sind am Schluss alle: Die Regierung, weil die Streitereien mit den Finanzen aufhören. Und auch die Gemeinden: Sie sparen Geld, können bei Projekten immer noch mitreden und dürfen erst noch ihre Strassenlampen behalten.
Der Podcast, der zeigt, was Politik in unserem Leben anstellt. Hier erfahrt ihr, wie und weshalb. Die Hosts Reena Thelly und Raphaël Günther zoomen mit Inlandjournalistinnen und -journalisten von SRF ganz nah ran, an die Schweizer Politik
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