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Wie ein Gesetz entsteht
Aus Einfach Politik vom 11.03.2022. Bild: SRF
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Legislative Knochenarbeit Langsam, aber trotzdem gut: So entsteht ein Gesetz

Vier Jahre wurde am neuen Strassengesetz gearbeitet. Der grösste Teil passiert fernab der Öffentlichkeit. Am Ende ändert sich nur wenig. Die Langsamkeit dieses Prozesses ist genau dessen Stärke. Nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch auf Bundesebene.

Der Rechtsstaat Schweiz basiert auf Gesetzen. Aber diese veralten, müssen modernisiert werden und neue Entwicklungen erfordern ganz neue Gesetze. Wenn ein neues Gesetz entsteht, setzt sich eine gewaltige Maschinerie in Betrieb, die sich oft jahrelang hinzieht. Gestritten wird dabei meistens um dieselben zwei Fragen: Wer befiehlt und wer zahlt? Doch was schwerfällig wirkt, sei die eigentliche Stärke des Prozesses, sagen Experten.

Ein Gesetz muss vollzugstauglich sein. Das setzt voraus, dass man sich genug Zeit dafür nimmt. Man schreibt ja nicht einfach so ein Gesetz.
Autor: Bernhard Waldmann Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Uni Fribourg

Ein grosser Teil dieser Gesetzesarbeit geschieht hinter den Kulissen. Das zeigt ein konkretes Beispiel, nämlich das neue Strassengesetz des Kantons Aargau. Radio SRF konnte den Prozess über mehrere Jahre lang begleiten. Dabei entstanden Einblicke in Prozesse, die sich normalerweise hinter den Kulissen abspielen. Entstanden ist eine Reise durch den Aargau – immer mit der Frage im Kopf: Wie entsteht eigentlich ein Gesetz?

Es brodelt wegen des lieben Geldes

Die Arbeiten am neuen Strassengesetz des Aargaus beginnen Mitte 2018. Das alte Gesetz stammt aus dem Jahr 1970. Es regelt, wie kantonale Strassen gebaut, unterhalten und finanziert werden. So legt es u. a. fest, dass sich Gemeinden an Sanierungen von Kantonsstrassen beteiligen müssen, die durch ihr Gebiet führen.

Strassenbaustelle in einem Dorf
Legende: In Wittnau im Fricktal saniert der Kanton seine Strasse, die durch das Dorf führt. Die Gemeinde muss mitzahlen, und das reisst ein Loch in die Gemeindekasse. Wittnau will das nicht länger hinnehmen. SRF

Arme Gemeinden müssen nach dem alten Gesetz prozentual weniger bezahlen als reiche. Das führt dazu, dass gewisse Gemeinden nur etwa ein Drittel der Kosten bezahlen müssen. Andere hingegen müssen viel mehr übernehmen. Wie diese Anteile genau errechnet werden, ist aber nicht klar definiert. Deshalb gibt es dauernd Streitereien zwischen den Gemeinden und dem Kanton über die Höhe der Beiträge. Die Unzufriedenheit mit dem Gesetz nimmt von verschiedener Seite zu. Es brodelt im Kanton.

Es ist wie bei einem Dampfkochtopf, der Druck nimmt zu. Jetzt braucht es eine Gesetzesrevision
Autor: Peter Buri Sprecher der Aargauer Regierung.

Ausdruck davon sind diverse Vorstösse aus dem Kantonsparlament. Kantonsrätin Regula Häseli aus Wittnau im Fricktal verlangt zum Beispiel, dass der Kanton seine Strassen innerorts vollständig selber zahlen solle. Aber auch die Baufachleute der Gemeinden kritisieren die unklare Situation gegenüber der Regierung.

Der grosse Wurf stürzt ab

Die Regierung erteilt den Auftrag, ein neues Gesetz auszuarbeiten. Projektleiter wird Hans-Martin Plüss. Er arbeitet im Stab des Baudepartements des Kantons und entscheidet sich, unterstützt von der Regierung, einen grossen Wurf zu wagen, einen Systemwechsel. Weg von den Beiträgen an einzelne Projekte hin zu einer Pauschale. Die Gemeinden sollen jedes Jahr einfach fix vier Steuerprozente zahlen in eine Kasse für Strassenprojekte.

Der Kantonsbeamte Hans-Martin Plüss in seinem Büro. Er fasst sich mit den Händen an den Kopf als Geste der Enttäuschung
Legende: Viel Stress und manchmal ein Schritt zurück – Hans-Martin Plüss ist Projektleiter des neuen Strassengesetzes des Aargaus. SRF

Plüss präsentiert seinen Vorschlag dem Koordinationsgremium Kanton Gemeinden (KKG). Im Gremium sitzen Fachleute aus diversen Gemeinden des Aargaus. Sie werden frühzeitig informiert, wenn der Kanton an einem neuen Gesetz arbeitet. Sie können ihre Meinung äussern, dürfen aber mit niemandem über die Pläne des Kantons sprechen. Die Arbeit hinter den Kulissen eines Gesetzes soll nicht durch zu frühe politische oder mediale Interventionen gestört werden.

Nein, so kann das nicht herauskommen, nein wirklich nicht.
Autor: Renate Gautschy Gemeindepräsidentin Gontenschwil & Mitglied im KKG

Das Gremium verwirft den ersten Gesetzesentwurf. Die Fachleute aus den Gemeinden, allen voran die Gemeindepräsidentin von Gontenschwil, Renate Gautschy, befürchten, die Gemeinden verlieren ihr Mitspracherecht bei Bauprojekten des Kantons. Bis jetzt ist es so, dass die Gemeindeversammlungen die Beiträge der Gemeinden bewilligen müssen. Das löst manchmal hitzige Diskussionen aus. Der Kanton ist also gut beraten, seine Bauprojekte sehr genau mit den Gemeinden anzuschauen.

Renate Gautschy sitzt in ihrem Büro an einem Holztisch. Vor Ohr liegen Akten. Sie verschränkt die Arme.
Legende: Renate Gautschy wehrt sich erfolgreich gegen den ersten Gesetzesentwurf. SRF

Eine fixe Pauschale pro Jahr würde die Gemeindeversammlungen der Möglichkeit berauben, solche Diskussionen zu führen. Deshalb das «Nein» des KKG. Die Projektleitung muss also zurück an den Anfang, ein ganzes Jahr Arbeit ist zunichtegemacht.

Die Deadline steht, es pressiert

Beim neuen Anlauf steht Hans-Martin Plüss unter Druck. Er weiss, es bleiben ihm noch fünf Monate, bis das Gesetz Mitte 2020 in die Anhörung gehen würde. Er muss also Vollgas geben. Und es gelingt: Im Juni 2020 lädt die Regierung zur Medienkonferenz. Die Öffentlichkeit erfährt erst jetzt, dass es ein neues Strassengesetz geben soll. Zwei Jahre Vorarbeiten sind zu diesem Zeitpunkt schon geleistet, alles unter dem Mantel der Vertraulichkeit.

An der Medienkonferenz wird klar: Es bleibt dabei, dass die Gemeinden Beiträge pro Projekt bezahlen. Die Pauschale ist vom Tisch. Neu ist aber der Verteilschlüssel. Die Gemeinden zahlen fix ein Drittel an Kantonsstrassen innerorts, der Kanton zahlt zwei Drittel.

Der zuständige Regierungsrat Stephan Attiger präsentiert seine Ideen der Öffentlichkeit. Er steht zentral im Raum.
Legende: Regierungsrat Stephan Attiger präsentiert seine Ideen an der Medienkonferenz. Erst jetzt erfährt die Öffentlichkeit vom neuen Gesetz – erst zwei Jahre nach Beginn des Projekts. SRF

Die Gemeinden freuen sich über diesen Kurswechsel. Und sie merken, dass sie pro Jahr summa summarum 10 Millionen Franken weniger bezahlen müssten. Deshalb machen sie Druck, dass das neue Gesetz möglichst schnell in Kraft treten soll, nämlich schon Anfang 2022 und nicht erst Anfang 2023.

Die Regierung geht darauf ein. Und ab dann muss alles Schlag auf Schlag gehen: Vernehmlassung, Botschaft an das Kantonsparlament, Arbeit in der zuständigen Kommission, Ratsdebatten, allenfalls ein Referendum, Erstellen der Verordnung zum Gesetz, Schulung der Gemeinden, Inkraftsetzung Anfang 2022. Die Projektleitung ist im Dauerstress.

«Ein Gesetz muss vollzugstauglich sein»

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Legende: Bernhard Waldmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Fribourg. Universität Fribourg

SRF News: Im Schnitt dauert es in der Schweiz rund vier Jahre, bis ein Gesetz entsteht, von der ersten Idee bis zur letzten Verordnung. Ist das nicht viel zu lange?


Bernhard Waldmann: Ein Gesetz muss vollzugstauglich sein. Das setzt voraus, dass man sich genug Zeit dafür nimmt. Man schreibt ja nicht einfach so ein Gesetz. Man muss es konzipieren, muss eine Problemanalyse machen und schauen, was man genau will. Dann kommt es in die politische Maschinerie, ins Parlament, vielleicht gibt es noch ein Referendum. Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man ein Gesetz haben will, das wirkt und auch akzeptiert wird.


Und trotzdem werden doch heute dauernd gegen neue Gesetze Referenden ergriffen, und oft sind die auch noch erfolgreich. Dann hat man einen Riesenaufwand gehabt, und alles landet im Papierkorb.


Dieser Eindruck kann aufgrund der letzten Abstimmungen tatsächlich entstehen. Dann bleibt in der Tat ein Scherbenhaufen zurück. Ich wäre trotzdem vorsichtig, daraus gleich einen Trend abzuleiten. Bei der grossen Mehrzahl der Gesetzgebungsprozesse kommt es nicht zu einem Referendum.


Wo sehen Sie Schwachpunkte in den Gesetzgebungsverfahren der Schweiz?


Mein Eindruck ist, dass manchmal die politischen Akteure zu früh eingreifen. Das hilft nicht immer dem Ziel, am Schluss ein Gesetz zu haben, das auch die gewünschte Wirkung erzielt. Aber im Grossen und Ganzen haben wir ein gutes System.


Am neuen Strassenverkehrsgesetz des Kantons Aargau wurde ganze zwei Jahre lang hinter den Kulissen gearbeitet, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Sollte das auch auf nationaler Ebene öfters so sein?


In einer Demokratie muss der Gesetzgebungsprozess immer transparent sein. Aber zu Beginn des Prozesses ist es nötig, dass die Rolle von Expertinnen und Experten aus Verwaltung und Wissenschaft mehr gewichtet wird, während sich die Politik etwas stärker zurückhält. Man kann aber auch den Fehler machen, dass man die Politik zu spät einbezieht. Am Schluss sind es ja die politischen Gremien, die entscheiden, das tun nicht die Fachleute. Es braucht das richtige Gleichgewicht zwischen fachlicher Kohärenz und politischer Akzeptanz.

Das Gespräch führte Marco Morell

Die Vernehmlassung zeigt, dass die neue Finanzierung breit akzeptiert ist. Aber bei der Strassenbeleuchtung gibt es zunehmend Opposition. Die Strassenlaternen neben den Kantonsstrassen innerorts sollen neu dem Kanton gehören - und nicht wie bisher den Gemeinden. Baulich seien Lampen und Strassen eine Einheit, deshalb sollen sie den gleichen Eigentümer haben, so das Argument des Kantons. Dagegen wehren sich die Gemeinden.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Grosse Rat einfach so enteignen will
Autor: Jeanine Glarner Aargauer Kantonsrätin (FDP)

Das Aargauer Kantonsparlament, der Grosse Rat, diskutiert im März und im Juni 2021 über das neue Strassengesetz. Bei den Strassenlampen macht die Regierung einen Rückzieher. Am Schluss geschieht ein kleines politisches Wunder: Das Gesetz, das doch etliche Irrungen und Wirrungen durchgemacht hat, kommt am Schluss einstimmig durch und gilt seit dem 1. Januar 2022. Vier Jahre Arbeit waren dafür nötig. Zufrieden sind am Schluss alle: Die Regierung, weil die Streitereien mit den Finanzen aufhören. Und auch die Gemeinden: Sie sparen Geld, können bei Projekten immer noch mitreden und dürfen erst noch ihre Strassenlampen behalten.

Podcast Einfach Politik

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