Teilweise quer durch Familien wurde gestritten über das Zertifikat oder die Impfung, Wörter wie «Diktatur» und «Covidioten» machten die Runde. Die Pandemie hat in der Schweiz Gräben aufgerissen. Hier Brücken bauen will der Kanton Graubünden und sucht aktuell nach Lösungen.
Eine Untersuchung soll klären, wie sich bei einer nächsten Krise soziale Spaltungen verhindern lassen. Sie ist Teil einer grösseren Evaluation des Bündner Krisenmanagements.
Die Leute sagten mir: ‹Man nimmt uns nicht ernst, man hört uns nicht›.
Auslöser sei die Coronawelle im Herbst 2021 gewesen, sagt Martin Bühler, Bündner Krisenchef und Leiter des Amts für Militär und Zivilschutz. Kritikerinnen der Massnahmen hätten sich bei ihm gemeldet, der Tenor: «Man nimmt uns nicht ernst, man hört uns nicht.» Ihm habe das persönlich zu schaffen gemacht, sagt Bühler. Denn: «Wir hatten eine Krise zu bewältigen, in der wir als Behörde in das gesellschaftliche Leben eingreifen mussten.»
Die Massnahmenkritiker schlugen Martin Bühler damals vor, die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle zu kontaktieren. Sie könne neue Perspektiven einbringen und nehme eine Zwischenposition ein.
Ein runder Tisch scheitert
Die Ethikerin und der Krisenchef trafen sich erstmals im Januar 2022. Baumann-Hölzle leitet das Institut «Dialog Ethik» in Zürich, das vor allem Gesundheitsinstitutionen bei komplexen ethischen Fragen und Dilemmas berät.
Der Plan: Ein Runder Tisch unter der Leitung der Ethikerin sollte alle Seiten zusammenbringen, um miteinander das Thema «soziale Spaltung» zu diskutieren – Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft und des Bundesamts für Gesundheit, Massnahmenkritiker und -befürworterinnen.
Doch das Projekt scheiterte. Martin Bühler erinnert sich: «Gewisse Kreise sagten klar: ‹Wir sprechen mit euch, ihr habt gut mit uns zusammengearbeitet. Wir diskutieren aber nicht über die Wirkung von Impfungen oder Masken›». Wer nicht mit wem reden wollte, bleibt offen, weil der Bericht noch nicht fertig ist.
Wir hatten eine Krise zu bewältigen, in der wir als Behörde in das gesellschaftliche Leben eingreifen mussten.
Anstelle eines Runden Tisches führte die Ethikerin Ruth Baumann zusammen mit Martin Bühler in den vergangenen Wochen Einzelgespräche mit den verschiedenen Gruppen durch.
Auch wenn das Projekt noch läuft, erste Erkenntnisse gibt es für den Krisenchef Martin Bühler und die Ethikerin Ruth Baumann. «Am Schluss ist es ein Vertrauensproblem und daran müssen wir arbeiten», sagt Baumann. Das habe exemplarisch der gescheiterte Runde Tisch gezeigt. Es brauche in einer Krise das gegenseitige Vertrauen, dass es trotz unterschiedlicher Meinung «allen darum geht, gut durch eine solche Krise zu kommen».
Die Ethikerin fordert deshalb eine verstärkte öffentliche Debatte «auf Augenhöhe», zum Beispiel zwischen Fachleuten der gleichen Disziplin wie Medizinerinnen oder Juristen.
Diskussionen vor der Krise
Für Bühler ist die Erkenntnis wichtig, dass man immer vorbelastet in einer Krisensituation landet: «Jeder Unfrieden verstärkt sich in einer Krise.» Ein Beispiel sei das Impfen. Das Thema sei schon vor Corona kontrovers und mit verhärteten Fronten diskutiert worden. Solche schwierigen Diskussionen müsse man führen, wenn man die Zeit dazu habe. Vor einer Krise – quasi «in Friedenszeiten» – müsse auch demokratisch geklärt werden, wer Entscheidungen treffen kann, wenn es brennt.
Die Auswertung der geführten Gespräche im Kanton Graubünden läuft noch. Vorschläge, wie eine Gesellschaft künftig besser mit Krisen umgehen kann, soll es bis im Herbst geben.