In den 1970er-Jahren wehte ein frischer Wind durch die Klassenzimmer. Eine Bewegung, die Drill und autoritäre Lehrer weg haben wollte. Fortan sollte das Kind und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Über dieser Revolution im Schulwesen hängt der Begriff «Reformpädagogik».
Doch die Reformpädagogik steht seit geraumer Zeit in der Kritik. Zuerst waren es die Enthüllungen rund um die deutsche Odenwaldschule, wo extreme Missbräuche von Kindern stattfanden: 1998 machten ehemalige Schüler öffentlich, dass sie über Jahre hinweg vom Direktor der Schule missbraucht worden waren.
2010 wurde das volle Ausmass der Übergriffe publik: 8 Lehrer hatten sich zwischen 1966 und 1991 in Dutzenden Fälle an Schülern vergangen, der Journalist Christian Füller beschrieb ein «pädagogisches Paradies mit Folterkeller».
In den 70er-Jahren postulierte auch Jürg Jegge eine Schule ohne Zwänge und ohne Gewalt. Seine Ideen haben den Schulalltag verändert – bis heute. Nun ist klar: Auch er hat seine Macht missbraucht und sich sexueller Übergriffe auf Schüler schuldig gemacht.
Die Frage bleibt: Ist das Erbe der modernen Reformpädagogik für alle Zeiten belastet, ja untragbar geworden? Drei Schweizer Pädagogen liefern Antworten.
Jürg Brühlmann vom Schweizer Lehrerverband: 1976 sorgte Jürg Jegge mit seiner Schrift ‹Dummheit ist lernbar› für Furore. Er sei als junger Lehrer offen für solche Ideen gewesen, sagt Brühlmann rückblickend: «Jegge hat die Sonderpädagogik stark beeinflussen können. Denn Kinder entwickeln sich unterschiedlich, es sind nicht alle gleich.» Diese Erkenntnis sei damals kein Gemeinplatz, sondern noch «recht neu» gewesen, sagt der Leiter Pädagogik beim Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz: «Jegge hat uns auch damit stark beeinflusst.»
Damian Miller, Professor für Erziehungswissenschaften an der PH Thurgau: Der Mitautor des Buches «Reformpädagogik nach der Odenwaldschule, wie weiter?», sieht die Missbräuche nicht per se in den pädagogischen Idealen der Reformer angelegt: «Gewisse Menschen haben sie sich aber zunutze gemacht, um ein Umfeld zu schaffen, damit ihre Übergriffe legitim erscheinen.» Das Plädoyer für eine Schule, die sich immer neu an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichtet, könne man deswegen aber nicht für ungültig erklären. Ein wichtiges Erbe der Reformpädagogik der 70er seien die Lehren im Umgang mit Heterogenität: «Zudem ist Gewalt gegenüber Schülern seither nicht mehr zulässig.»
Lucien Criblez, Pädagogikprofessor an der Universität Zürich: Auch der Pädagogikprofessor Lucien Criblez bestätigt, dass die Pädagogen der 70er-Jahre – wie Jürg Jegge – die moderne Schule geprägt haben. Zuvor seien noch alle Kinder gleich behandelt worden, heute gehe man viel individueller auf ihre Bedürfnisse ein: «Teil der Entwicklungen seit damals ist, dass Kinder und Jugendliche mehr Rechte haben und als Individuen ernster genommen werden.»
Hinschauen statt Wegschauen
Die Fachleute bekräftigen also die Verdienste Reformpädagogen der 1970er-Jahre. Auf der anderen Seite verurteilen sie die sexuellen Übergriffe scharf. Es sei der grosse Fehler von damals gewesen, dass man zu wenig genau hingeschaut habe, sagen sie übereinstimmend.
Es sei aber falsch, die Reformideen der 70er-Jahre pauschal zu verdammen, findet Brühlmann vom Lehrerverband: «Man kann nicht das Ganze Modell über Bord werfen. Wir müssen aber gemeinsam Verantwortung dafür übernehmen, dass die Kinder an Schulen in Sicherheit sind.»
Gegen den Star-Kult
Pädagoge Miller hält derweil einen Kult um einzelne «Starpädagogen» für gefährlich: «Wenn man einen Jürg Jegge zum ‹Pädagogen der Nation› stilisiert, traut sich auch niemand mehr, Kritik an dieser quasi heiliggesprochenen Person zu üben.»
Ohnehin liessen sich Reformen nie ohne die Schulen und Lehrerverbände vollziehen, und das pädagogische Feld sei zu weit, um die Erziehung zu propagieren, schliesst Miller: «Und scheinbar gibt es Leute, die den Heiligenschein, der um sie herum gebaut aufgebaut wird, ausnutzen wissen.»