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Messerattacke von Lugano Krankheit schützt vor Terrorismus nicht

Die Debatte wiederholt sich nach fast jedem Angriff, sobald Hinweise auf psychische Probleme bekannt werden: Ob es sich um Terrorismus oder die Tat «eines geistig Verwirrten», wie es zuweilen heisst, handelt. Oft ideologisch gefärbt, dreht sich die Debatte im Kreis – man sieht, was man sehen möchte. Doch dieses Entweder-oder – Terrorismus oder Krankheit – gibt es vielfach nicht. Viel öfter ist es ein «und».

Dieser Mix aus ideologischer Radikalisierung und teilweiser psychischer Störung ist ein Phänomen, das Sicherheitsbehörden europaweit feststellen, wie ein Blick in die Lageeinschätzungen von Europol zeigt. Dies nicht nur im Bereich des islamistischen Extremismus, sondern auch im Rechtsextremismus.

IS-Terroristin oder Patientin?

Die am Montag vor Bundesstrafgericht in Bellinzona zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilte Frau weist ein ähnliches Profil auf. Sie wurde unter anderem schuldig gesprochen wegen mehrfach versuchten Mordes und der Verletzung des IS-Verbotsgesetzes.

Auch wurde eine «verminderte Schuldfähigkeit» berücksichtigt, die in Gutachten festgestellt worden sei, schreibt das Gericht. Es hat deshalb eine stationäre Massnahme in einer geschlossenen Institution verordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig und kann weiterzogen werden.

Ist die erstinstanzlich verurteilte Frau eine IS-Terroristin oder eine Psychiatriepatientin? Die Verteidigung hatte in der Verhandlung darauf gepocht, sie als Letzteres zu betrachten, ihre Tat habe mit Terrorismus nichts zu tun, so ihr Anwalt. Die Staatsanwältin des Bundes hatte entgegnet, Wahn und Terrorismus würden sich nicht ausschliessen.

Herausforderung für Behörden

Zu dieser Lesart tendiert offensichtlich auch das Gericht. Auch hier ist, wie in vielen anderen Fälle im Ausland, erneut dieser Mix festzustellen. Das Urteil aus Bellinzona reiht sich in dieses Phänomen ein – also Terroristin und Patientin. Allerdings: Es gibt sie durchaus, die Ausnahmen, also Fälle, in denen angebliche Terroristen von Gerichten für vollständig schuldunfähig erklärt werden aufgrund psychischer Erkrankungen – aufgrund einer Schizophrenie beispielsweise im Fall des Messerstechers von Würzburg.

Noch verbreiteter ist das andere Extrem: die aus forensisch psychiatrischer Sicht vollständig gesunden Terroristen. Sie bilden gemäss mehreren Studien, entgegen der Intuition, noch immer die Mehrheit. Es würde zu kurz greifen, Terrorismus nur noch durch die medizinische Brille betrachten zu wollen, und damit alle Extremisten und Extremistinnen zu pathologisieren.

Doch das Urteil aus Bellinzona zeigt, dass die psychische Komponente in eine sachliche Lagebeurteilung miteinbezogen werden muss. Weit mehr noch als die Gerichte dürfte das Phänomen die Kantons- und Bundesbehörden beschäftigen, die mit der Prävention von Gewalttaten betraut sind. Denn eine teilweise psychische Erkrankung macht die Risikobeurteilung einer Person umso schwieriger.

Weiterer Fall kommt vor Bundesstrafgericht

Eindeutig scheint, dass Personen mit psychischen Erkrankungen und Anzeichen von Radikalisierung für Sicherheitsbehörden europaweit von zunehmender Sorge sind. Denn sowohl für islamistische Hassredner als auch für rechtsextreme Terror-Rekrutierer können psychisch labile Menschen zu Zielobjekten werden – weisen sie auch noch eine Gewaltdisposition auf, kann es gefährlich werden.

Vor Bundesstrafgericht in Bellinzona wird das bald wieder Thema sein: Die Anklage zum ersten dschihadistischen Anschlag in der Schweiz, jenem im Morges (VD) vom September 2020 mit einem Todesopfer, liegt bereit. Das Verhandlungsdatum steht noch aus.

Daniel Glaus

Fachredaktor Extremismus

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Daniel Glaus ist seit 2015 Inlandredaktor beim Schweizer Fernsehen, zu seinen Dossiers zählen Extremismus und Terrorismus. Zuvor arbeitete der Investigativjournalist beim Recherchedesk von «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche».

SRF 4 News, 19.09.2022, 11 Uhr

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