Die Annahme der Mindestlohninitiative, über die Mitte Mai abgestimmt wird, wäre im Tessin keine Überraschung. Denn die Löhne im Tessin sind tief. Der typische Monatslohn beträgt 5000 Franken, 1300 weniger als in Zürich. Weil das Geld nicht reicht, erhält jeder dritte Einwohner einen Krankenkassen-Zustupf vom Staat.
Zu den Tieflohnzahlern gehört zum Beispiel die Firma Gesitronic in Claro nahe Bellinzona. Das Familienunternehmen fabriziert und montiert für den Schweizer Markt Drähte und und Leitungen. 3000 Franken Mindestlohn erhalten die 24 Angestellten.
«Lieber 3000 Franken im Monat als arbeitslos»
Die meisten von ihnen sind ungelernte Arbeiterinnen. Für die Frauen sei der Gesitronic-Zahltag ein Einkommen, das zu jenem des Partners hinzukomme, erklärt Graziano Gemetti. Er ist der Betriebsleiter. Als Working Poor sähen sie sich nicht.
Eine Mehrheit der Belegschaft hat ein Papier unterschrieben, das Stellung nimmt gegen die Mindestlohn-Initiative. «Lieber 3000 Franken im Monat als Arbeitslosigkeit» steht darauf. Die Mindestlohninitiative gefährde das Überleben der Firma, die Lebenskosten im Tessin seien tiefer als im Rest der Schweiz.
Gemettis Konkurrenz sitzt in Rumänien, Tschechien und noch weiter weg, wo 400 Euro Monatslohn die Regel sind. «Wir würden das nur mit grossen Schwierigkeiten überleben», sagt Gemetti zur Mindestlohn-Initiative. Der Markt sei nicht bereit, die um 30 Prozent steigenden Lohnkosten zu übernehmen.
Mindestlöhne nur falls der Markt versagt
4000 Franken Mindestlohn, das sei jenseits, sagt auch Franco Ambrosetti, der Präsident der Industrie- und Handelskammer. Er ist gegen die nationale Mindestlohn-Initiative. Wenn schon, dann müsse man nicht bei den Löhnen, sondern bei den zu hohen Konsumentenpreisen ansetzen, sagt er. Auf kantonaler Ebene hat er jedoch eine Mindestlohn-Initiative der Tessiner Grünen unterzeichnet.
Als Liberaler müsse er gegen Mindestlöhne sein, sagt Abrosetti. Aber wenn der Markt versage, müsse eine pragmatische Lösung gefunden werden. «Es gibt ein Problem mit der Lohngerechtigkeit.» Die Tessiner Lösung würde Mindestlöhne bringen, die je nach Region, Branche und Beruf gestaffelt sind. Und darum hat er unterschrieben.
Konkurrenzfähig oder unzufriedene Leute?
Tieflöhne gehörten seit Jahrzehnten zum Tessiner Wirtschaftsmodell, sagt der pensionierte Professor Angelo Rossi. Er ist Autor zahlreicher volkswirtschaftlicher Studien über das Tessin. «Es ist eine Falle: Werden die Löhne erhöht, sind die Firmen nicht mehr konkurrenzfähig und müssen schliessen. Bleiben die Löhne tief, sind die Menschen unzufrieden.» Die sozialen Kosten sind hoch. Das bringt dem Staat weniger Steuereinnahmen, mehr Sozialausgaben und wachsende Defizite.
Unia besucht Tieflohnbetriebe im Tessin
Ein Kampagnenbus der Gewerkschaft Unia tourt durch den ganzen Kanton. Er hält auch gegenüber der Firma Gesitronic in Claro. Igor Cima, Unia-Verantwortlicher für das Sopraceneri, bekräftigt: «Bis vor kurzem lagen die Monatslöhne bei Gesitronic noch unter 3000 Franken. Löhne unter 4000 Franken sind eines der reichsten Länder der Welt nicht würdig. 4000 Franken müssen drinliegen, auch bei Gesitronic.»
Doch die Unia selbst hat Gesamtarbeitsverträge mit Tieflöhnen abgeschlossen, zum Beispiel mit dem Uhrenkonzern Swatch. Der bietet im Tessin einen Mindestlohn von 2900 Franken, in der Nordwestschweiz bezahlt er für dieselbe Qualifikation 700 Franken mehr. Man habe dort endlich 3000 Franken Monatslohn erreicht. Das ist die Folge der Kräfteverhältnisse am Verhandlungstisch, sagt Cima. Das Ziel sind 4000.
Die Löhne werden kaputtgemacht. Und die Politik tut nichts. So ist der Eindruck mancher Stimmbürger im Tessin. Wenn es um den Mindestlohn geht, werden sie an der Urne ein Zeichen setzen.